Sie war sein Gedicht

Sie war sein Gedicht

Zum Tod von Elisabeth Kunze
Blick aus dem Fenster des Hauses der Reiner und Elisabeth Kunze - Stiftung in Obernzell-Erlau (an der Donau) | © Kristina Stella

Elisabeth Kunze war eine Ärztin. Sieht man im Internet nach ihrem Namen, steht da meistens „Ehefrau“. Ehefrau von Reiner Kunze. Das war sie freilich auch, aber eben nicht als Beifügung. Abgesehen davon, dass sie es war, die sich diesen Kunze eroberte, eröffnete sie ihm den Kosmos der Sprache Böhmens, das bekanntlich am Meer liegt. Matthias Buth hat ihr einen Nachruf geschrieben.

… und am ende ganz am ende
wird das meer in der erinnerung
blau sein

So endet RUDERN ZWEI, das wohl bekannteste Gedicht von Reiner Kunze. Und dieses hat der Dichter seiner Elisabeth, dem blauen Komma seiner Lyrik, ins Grab gelegt. Das Meer wird blau sein und so bleiben, alle Stürme vergessen machen. Elisabeth Kunze war ihm mehr als eine treue Begleiterin. Sie war sein eigentliches Gedicht.

„Über mich gibt es nicht viel zu erzählen. Auf Leinwand und auf Seide sticke ich zu Hause und außer Haus. Ich bin ruhig und froh und mein Zeitvertreib ist es, Lilien und Rosen zu züchten. Ich mag die Dinge, die solch einen süßen Zauber haben, die von Liebe und Frühling sprechen.“

So singt uns Puccinis Mimi ins Herz. Und das hätte auch Elisabeth singen können oder anders formuliert: Mimi hat das Lied für sie gesungen. La Bohème ist die Oper der Dichtung, sie nimmt viel von dem auf, was ich bei Elisabeth anlande.

Sie wurde am 19. Mai 1933 im südlichen Mähren, im Znaim, geboren. Heute heißt der Ort Znojmo. Er liegt Niederösterreich nahe. Und nahe der deutschen Geschichte. Als im Oktober 1938 das Protektorat Böhmen und Mähren von der Berliner NS-Regierung erzwungen wurde, kam der Mann aus Braunau in die Stadt und hielt auf dem Unteren Platz einige Wochen später eine Rede. Da war Elisabeth fünf Jahre alt. In ihrem Elternhaus wurde deutsch gesprochen, die Muttersprache. Die Vatersprache war tschechisch. Auf Znaim, Hauptstadt des sog. „Reichsgau Niederdonau“, kamen schlimme Zeiten zu; die Vertreibung und Verfolgung von jüdischen Mitbürgern, deren Synagoge zerstört und dann völlig abgerissen wurde, Urteile des NS-Sondergerichts Zaim, dann drei schwere Bombenangriffe 1944, das Flüchtlingselend der Ostdeutschen aus Schlesien und anderen Regionen, die sich vor der Roten Armee in Sicherheit bringen wollten, die am 8. Mai 1945 die Stadt erreichte. Elisabeth war 12 Jahre alt. Und das Deutschsein wurde vielen zum Fluch. Die tschechischen „Revolutionsgardisten“ vertrieben und drangsalierten die deutsche Bevölkerung. Mord, Totschlag, Zwangsarbeit waren die bestimmenden Begriffe, 18.840 Personen wurden vertrieben, nur 200 konnten bleiben, so auch die Familie Mifka. Dass die Mutter eine in Wien geborenen Tschechin war, rettete, vor allem aber der Umstand, dass Vater in der Tschechoslowakei gebraucht wurde. Dennoch blieben die Repressionen der tschechischen National-Kommunisten nicht aus, die Heranwachsende spürte es, war nunmehr die Deutsche, die Sudetendeutsche, also verdächtig. Und so vertiefte sie sich in Bücher und in die vorgestellte Welt des Poetischen. In beiden Sprachen, in doppelter Sprachbürgerschaft.

Sie durchlief die Schule bis zum Abitur, studierte dann Zahnmedizin und eroberte für sich den noch frischen Begriff der Kieferorthopädie, ein Spezialgebiet, das neben der Literatur ihre Profession wurde. Ihr Leben schien zu gelingen. Es folgten eine Liebe, die Heirat und nicht viel später Marcela, die Tochter, bis deren Vater sich von Kind und Mutter abwandte und sie sich allein durchschlagen musste. Die Lektüre, die Welt der Dichter und besonders die Lyrik gaben Elisabeth Halt. Die Antennen der Neugier auf deutsche Gedichte wurden aufs Haus gesetzt. Und so empfing sie die Literatursendungen vom Berliner Rundfunk und von Radio DDR, dem sozialistischen Bruderland der kommunistischen Tschechoslowakischen Republik ČSR (ab 1960 Tschechoslowakische Sozialistische Republik ČSSR). Und so kam Reiner Kunze zu ihr, so die neue Lyrik, die er dort vortrug. Es funkte. Sie schrieb an den Sender, den Namen hatte sie nicht recht verstanden und anders wiedergegeben. Aber der Brief, die „Millimeteröffnung zur Welt“ kam an. Es folgten mehrere Hundert Briefe zwischen Reiner und Elisabeth. Dann schickte sie ein Foto, das – wie Reiner schmunzelnd erklärte – sie wenig vorteilhaft zeigte. Aber er hatte sie ja mit den Okularen des Dichters, mit der Welt der Poesie gesehen, organisierte eine Telefonverbindung ins unerreichbar nahe Mähren und fragte sie, ob sie zusammen das Leben bestreiten, ob sie heiraten sollten. Reiner Kunze war von seiner ersten Frau Ingeborg Weinhold schon seit 1959 getrennt und fühlte sich frei. Das Unmögliche gelang. Die beiden Wort-Verliebten R & E wurden ein Paar, einige Zeit hintertrieben und verzögert von den Prager Kommunisten. Reiner hatte aus seiner ersten Ehe den Sohn Ludwig, der aber nicht beim Vater lebte, Elisabeth brachte Marcela mit, die Tochter, welche Reiner sogleich adoptierte.

Das DDR-Leben begann in Greiz, erst noch in Solidarität der SED (Kunze war Arbeiterkind, der Vater Bergmann), bis der Dichter das System der politischen Lüge der deutschen Sozialisten durchschaute und er nach dem Einmarsch der Warschauer Pakt-Armeen 1968 in Prag das SED-Parteibuch zurückgab. Sodann war er Staatsfeind, dem Stasi-Staat ausgesetzt, aber nicht allein, denn er hatte die Welt an seiner Seite: Elisabeth. Sie war das Wort, das Aura hatte, das rettende Ufer, das mitzog. Für das Stacheldrahtdeutsch der Stasi-Verfolger unerreichbar.

„Als wir noch in der DDR lebten, sagte mir ein leitender Offizier eines Volkspolizeikreisamtes, was in diesem Staat wie einzuschätzen sei, bestimme einzig und allein die in ihm herrschende Arbeiter- und Bauernmacht, und meine rhetorische Entgegnung, ich hätte bisher geglaubt, Teil dieser Arbeiter- und Bauernmacht zu sein, konterte er mit den Worten: ‚Auch wer Sie sind, bestimmen nicht Sie, sondern wir.‘ Es gibt Sätze, die im Ohr wachliegen.“, schrieb Reiner Kunze 2002 in seiner Denkschrift „Die Aura der Worte“. Sich gegen dieses MP-bewehrte „Wir“ zur Wehr zu setzen, forderte den ganzen Menschen. Und dies gelang nur mit den Dimensionen der Zärtlichkeit der Gefährtin, die Welten aufschloss, in die keine Verfolger gelangten: die sichereren Kontinente der Poesie, gleich in welcher Sprache, jedoch besonders in jener Welt aus Böhmen und Mähren, den Landschaften des Tschechischen.

„Ich danke meiner Frau, der Wegbereiterin und der Wegbegleiterin ins Tschechische von Übertragung zu Übertragung“, so dankt Reiner seiner Elisabeth 2003 am Schluss des Bandes „Wo wir zu Hause das Salz haben“, der alle Übersetzungen, besser: alle Nachdichtungen aus dem Englischen, Jiddischen, Polnischen, Serbischen, Slowakischen, Ungarischen und besonders dem Tschechischen versammelt: Gedichte, die funkeln und korrosionsbeständig bleiben. Die weitaus meisten Dichter, die Kunze ins poetische Deutsch holte, kamen aus der zweiten Sprache seiner Frau.

erfindbar sind gedichte nicht
es gibt sie ohne uns irgendwo seit
irgendwo hinter sie sind dort in ewigkeit
der dichter findet das gedicht

Das sind Verse, einer der berühmten Vierzeiler von Jan Skácel (1922–1989). Ohne Elisabeth wäre Reiner diese Sprache verschlossen geblieben, hätte er sich in diese Dichterlande nicht begeben und wäre auch sein eigenes lyrisches Sprechen, sein kupferstichgenaues Dichten ein anderes geblieben. Gedanken sind kleine Bojen, an der Ausruhen möglich ist. Das Aperçuhafte von Kunzes Lyrik wurzelt im Tschechischen, besonders in den Versen von Skácel. Gedichte sind immer da, in allen Erscheinungen der Welt, der Dichter denkt, deckt auf und ist so mehr Archäologe. Das ist eine Zugewandtheit zur Schöpfung, zur Zeit (aufgehoben und entgrenzt in der Ewigkeit), die eine Sprachmystik erkennen lässt, die tiefe Quellen hat, so in den Sätzen und Begriffen von Meister Eckhart.

„Nachdichten und einander den eigenen Vers hinschenken – das ist der Internationalismus der Dichter“, bekundet Kunze im Buch, das Gedichte von Josef Svatopluk Machar, Karel Toman, Bohuslav Reynek, Jiří Wolker, František Halas, Vít Obrtel, Jaroslav Seifert, Jan Zahradníček, Vilém Závada, Vladimír Holan, František Hrubín, Oldřich Mikulášek, Jiří Kolář, Ivan Blatný, Ludvík Kundera, Antonín Bartušek, Jan Skácel (mit 59 Gedichten, aus einem nahm er den Titel des Bandes), Miroslav Holub, Vlasta Dvořáčková, Jiří Šotola, Ivan Diviš, Miloš Macourek, Milan Kundera, Miroslav Florian, Josef Hrubý, Jiří Pištora, Oldrich Dadák, Olga Neveršilová, Jana Štroblová, Václav Havel, Josef Hanzlík, Antonín Brousek, Petr Kabeš, Daniel Strož, Karel Kryl, Milena Fucimanová, Helena Aeschbacher-Sinecká, Lenka Chytilová, Petr Hruška und Pavel Petr enthält: ein poetischer Kosmos (so von Kunze im Buch angeordnet), der aus der Welt und Sprache von Elisabeth kommt. Sie war für Reiner die Fährtensucherin. Sie wusste, dass es diese Gedichte gab, dass die Schätze gehoben, dass sie in die Sprache von Böhmens Meergestaden transferiert und so in die Dichterworte ihres Lebensgefährten geholt werden sollten.

Elisabeths doppelte Sprachbürgerschaft machte sie zu einer wahren Europäerin. Reiner Kunze schrieb aus tiefer Seele den Liebessatz „Ich habe die tschechische Sprache geheiratet.“ Ein sprechender Titel für die Ausstellung, die anlässlich des 90sten Geburtstags des Ehepaares im Sommer 2023 von Renate Braun und Linda v. Keyserlingk-Rehbein von der „Reiner und Elisabeth Kunze-Stiftung“ sowie der Universität Passau konzipiert wurde, im August 2024 in Oelsnitz, dem Geburtsort von Reiner Kunze, gezeigt werden wird und sodann in Brünn, wo das dichterische Werk eines Freundes der beiden Kunzes, nämlich von Jiří Gruša, dem Dichter in beiden Sprachen, dem Botschafter Tschechiens und – wie Kunze – Träger des Andreas Gryphius-Preises, präsentiert werden wird. So begegnen sich Dichter, denn Dichter sterben nicht, sie leben weiter in Poesie und so im Leben jener, welche die Wege bereitet haben.

Auch Mimi stirbt nicht, selbst wenn sie am Ende der Oper La Bohème stirbt, stickt sie weiter Blumen, Lilien und Rosen. Sie können nicht welken. Und ihr Duft strömt aus den Gedichten und der Musik, die sie zum Klingen bringt.

Rudern zwei
ein boot
der eine
kundig der sterne
der andere
kundig der stürme
wird der eine
führn durch die sterne,
wird der andere
führn durch die stürme
und am ende ganz am ende
wird das meer in der erinnerung
blau sein

Elisabeth Kunze wurde am 3. Februar 2024 in Obernzell beerdigt, nahe der Donau, nahe den Sternen, die erhellen wie alle Poesie.

Letzte Änderung: 17.02.2024  |  Erstellt am: 17.02.2024

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Kommentare

Doris Liebermann schreibt
Lieber Matthias Buth, danke für den Nachruf. Eine Nachfrage hätte ich dazu, da ich nicht schlau daraus werde, welche Sprachen im Elternhaus gesprochen wurden. Der Vater war (Sudeten)-deutscher, sprach aber Tschechisch? Sie schreiben: "Die Vatersprache war tschechisch." Die Mutter, Wiener Tschechin, sprach Deutsch?

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