Mazeppa

Mazeppa

Dichtung, Musik und nationaler Mythos
Mikhail Georgievich Malyshev (1852-1914): Mazeppa | © Wikimedia Commons

„Ein Liebesverständnis, das er in seiner Jugend mit der Gemahlin eines polnischen Edelmanns gehabt hatte, war entdeckt worden“, schieb Voltaire in der „Geschichte Karls XII.“ über Mazeppa: „Der Gatte ließ ihn nackt auf ein wildes Pferd binden und dieses dann in die Freiheit jagen. Das Pferd, aus der Ukraine stammend, sprengte dahin zurück, und auf dessen Rücken Mazeppa, von Hunger und Ermüdung halb tot“. Matthias Buth schreibt über den mythischen Kosakenführer, den der Zar zum Fürsten der Ukraine ernannte, in Dichtung und Musik.

Alphonse de Lamartine war ein Lyriker von Rang, ein Dichter, der nach der Februar-Revolution 1848 auch als Minister für Europa und auswärtige Angelegenheiten für Frankreich Politik betrieb. In beiden Professionen ist ihm Nachleben sicher. 1790, die Französische Revolution durchpflügte gerade das Ancien Regime, kam er als einziger Sohn einer landadeligen Familie zur Welt in der burgundischen Provinz, 1869 starb er, zwei Jahre bevor das Deutsche Reich Bismarcks in Versailles gegründet wurde. Michel Houellebecq hat ihn aus dem romantischen 19. Jahrhundert in die Gegenwart geholt und gewürdigt, als er 2016 den Frank Schirrmacher-Preis bekam. Lamartines „Nouvelles Méditations poétiques“ von 1830 setzten auf Empfindung romantische Naturwahrnehmung. Das 118-Seiten-Buch hatte großen Erfolg in Frankreich und löste die Romantik in Frankreichs Lyrik aus. Und die Gedichte wurden gelesen, auch von Deutschen, Ungarn und von all jenen, die im Französischen eine Entsprechung eigener Weltvorstellungen fanden. Franz Liszt (1811-1886) gehörte dazu, in der französischen Sprache mehr zu Hause als in der deutschen. Von 1827 bis 1834 lebte der Mit-Begründer der neu-deutschen Schule und spätere Schwiegervater von Richard Wagner in Paris.

Der historische Iwan Mazeppa | © Foto: wikipedia commons

„Seit 14 Tagen arbeiten mein Geist und meine Finger wie zwei Verdammte, – Homer, die Bibel, Platon, Locke, Byron, Hugo, Lamartine, Chateaubriand, Beethoven, Bach, Hummel, Mozart, Weber sind alle um mich herum. Ich studiere sie, betrachte sie, verschlinge sie mit Feuereifer; überdies übe ich 4 bis 5 Stunden (Terzen, Sexten, Oktaven, Tremolos, Repetitionen, Kadenzen etc. etc.) Ach! Sollte ich nicht verrückt werden, wirst du einen Künstler in mir wiederfinden!“ Das schrieb er 1832 nach Genf an Pierre Wolff. Liszt saugte in Paris Bildung aus allen Facetten auf. Ein Besessener. Im Leben, Arbeiten und Lieben. Und so stieß er auf Lamartines Gedichtsammlung und nannte später seinen 12-Stücke-Zyklus von 1847 für Klavier „Harmonies poetiques et religieuses“ ganz ähnlich und mit Bezug auf Lamartines Lyriksammlung, die 1830 herauskam.

„Was ist unser Leben anderes als eine Reihe von Präludien zu jenem unbekannten Gesang, dessen erste und feierliche Note der Tod anstimmt?“ Ein Vers, dessen existentieller Ernst den Komponisten ergriff. Er ist aus Lamartines Gedichtsammlung entnommen und bildet so den thematischen Grundakkord von „Les Préludes“, der Dritten Symphonischen Dichtung für großes Orchester von Franz Liszt.

Nach dem Überfall der Wehrmacht auf die Sowjetunion wurde das Hauptthema von „Les Préludes“ die Erkennungsmelodie für den Wehrmachtbericht im Rundfunk und für die Wochenschauen und war auch als Siegesfanfare vorgesehen (als sogenannte Russland-Fanfare). Wenn gemeldet wurde „Das Oberkommando der Wehrmacht gibt bekannt“, war die Einstimmung dazu diese Fanfare, grundiert von mächtigem Trommelwirbel. Die Wehrmacht und NS-Propagandaminister Goebbels enterten das Liszt-Thema, verengten dessen Idee mit seinen Anklängen an Victor Hugos Gedicht „Feuilles d´automne“ in eine heroische Sieges- oder Sterbemusik. Seitdem ist bei vielen dieses Stück NS-kontaminiert und kaum noch in den Konzertsälen zu hören. OKW-Musik: das will keiner. Wie tragisch für den Komponisten und die Musikrezeption. Und wie teuflisch die Nachwirkungen des Deutschen Reiches, das in Sprache und Musik klandestin weiterlebt.

Die neun Symphonischen Dichtungen (eine Sprach- und Musikerfindung Liszts) eröffneten neue orchestrale Räume der romantischen Symphonik, lösten die drei- bis mehrsätzigen Symphonien ab und bezogen die Dichtung ein. Klanggemälde entstanden, die Idee des sogenannten Gesamtkunstwerkes aufnehmend, für die Richard Wagner stand.
In Deutschland werden Mythen klein geschrieben, nationale erst recht. Auch dieser Befund resultiert aus der deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert und besonders in der Zeit zwischen 1933 und 1945.

In der Publizistik wird in Erörterung des Zweiten Weltkrieges in der Regel nicht vom Deutschen Reich oder von Deutschland gesprochen, sondern man benutzt Begriffe wie NS-Staat, NS-Deutschland, Terrorregime u.a. Das sind sprachliche und so auch emotionale wie geschichtliche Distanzierungen, als hätten wir Nachgeborenen damit nichts zu tun, als sei unsere Nationsgeschichte ferne Vergangenheit, die frühere Generationen beträfe, als sei diese durch unsere Vorfahren uns Bundesbürgern nicht auf die Seele gebunden. Aber man wird die nationalen Mythen, Zeichen und Symbole von den Römern bis heute nicht los, die kirchlichen und staatlichen Liturgien sind voll davon. Auch Sprache, Literatur und Musik. Winfried Münkler ist einer der wenigen, der sich ihnen historisch zugewandt hat.

Und der Krieg, den Russland gegen die Ukraine entfesselt hat, wird von nationalen Mythen gesteuert, von russischen, die das Imperium und die Russen als überlegene Nation begründen sollen, und von den ukrainischen. Die allermeisten Ukrainer verstehen sich eben nicht als Klein-Russland, sondern als ein Volk der Freiheit und Selbstbestimmung in einer genuinen Geschichte. Der russische Angriffskrieg vom 24. Februar 2022 hat dieses Bewusstsein massiv werden lassen.

Im Zentrum dieses Kampfes um Selbstbehauptung und Souveränität steht eine historische Figur, die mit Legenden überhöht wurde und Eingang in die Kunstmusik gefunden hat: im Werk von Franz Liszt in dessen sechster Symphonischer Dichtung „Mazeppa“. In dieser Komposition wird erzählt, es ist Programmmusik in Reinform über die historische Figur von Ivan Mazeppa, eines ukrainischen Adeligen aus dem 17. Jahrhundert am Hofe des polnischen Königs. Ein Gefühlsepos voller Dramatik und Erotik, zusammengesetzt aus Strafe, Sühne und Rettung, die zum Ausgangspunkt der nationalen Selbstverständigung der Ukrainer führt. Iwan Masepa (oder meist Mazeppa) war Page am Warschauer Hof und erotisierte die Frau eines Magnaten; die Einzelheiten dazu bleiben dunkel. Nur die Tatsache der erotischen Eroberung und das Eindringen in die eheliche Sphäre des Hochgestellten (wohl eines Grafen) am Hofe wird erzählt von Victor Hugo, dessen Ballade Liszt musikalisch umsetzt. Entscheidend für den dramatischen Verlauf ist die Strafe von Mazeppa. Denn er wird rücklings auf ein Pferd gespannt und hinausgejagt in die Steppe in der Erwartung, so seinen Tod zu finden. Die wilde Jagd über die Ödnis und Weite packt Liszt in sich auftürmende Melodik und Schnelligkeit, bis hin zum Sturz des Pferdes, der dann die Rettung des Gefolterten auslöst und seinen Aufstieg zum Kosakenführer einleitet. Bereits in den „12 Études d´exécution transcendante“ für Klavier hat der Komponist Mazeppa in einem d-Moll-Presto skizziert: ein siebeneinhalbminütiges Schauerstück, doppelt so lang ist die sechste Symphonische Dichtung von etwa 16 Minuten, die 1850 in Weimar entstand und 1884 vom Weimarer Hofkapellmeister Franz Liszt uraufgeführt wurde. Das Stück endet mit Fanfaren und einem Kosakenmarsch, die für eine glorreiche Zukunft und nationaler Begründung der Kosaken in einem eigenen Staat stehen.

Der Komponist stand ganz im politischen Fluss der nationalen Erhebungen in Europa, die polnische Niederlage durch das zaristische Russland von 1830/31 vor Augen und auch im Angesicht der nationalen, volkssouveränen Emanzipationen im Zuge der Französischen Revolution in vielen europäischen Regionen nach dem Untergang der napoleonischen Gewaltherrschaft. Auch an Ungarn wird er gedacht haben. Insofern schrieb Liszt ein ebenso tonmalerisches wie politisches Stück mit visionären Ausblicken und das alles nach den Versen von Victor Hugo, der sich auf Berichte von Voltaire (1694-1778) stützte und in denen sich der markante Satz findet: „Die Kosaken haben niemals Herren haben wollen…Die Ukraine war immer bestrebt, frei zu sein.“

Die Wahrnehmung von Mazeppa, der 1639 als Iwan Stepanowitsch Masepa als Adeliger der sogenannten Rechtsufrigen Ukraine in der Nähe von Bila Zerkwa am Ufer des Flusses Ros und 80 Kilometer südwestlich von Kiew geboren wurde und 1709 in Bender am Ufer des Dnister im Fürstentum Moldau starb, ist in der russischen Geschichtsschreibung völlig anders als in der ukrainischen. War er ein Verräter am russischen Zaren oder ein ukrainischer Volksheld und insofern eine Identifikationsfigur für das nationale Selbstverständnis der von Russland bedrängten Ukraine?

Seine Jugend verbrachte er nach einem Studium an der Akademie von Kiew und im Warschauer Jesuitenkolleg als Höfling am Hof des polnischen Königs Johan Kasimir, mit dem er durch West-Europa reiste. 1663 soll sich die Ehebruchsgeschichte am Hof des Königs ereignet haben sowie die folgende Bestrafung mit der Fesselung auf einem Pferd und die glückliche Rettung, durch die er zu den Kosaken stieß. 1669 wurde er in den Dienst des Hetman Petro Doroschenko aufgenommen, wechselte zum Hetman Iwan Samojlowitsch und stieg 1687 selber zum Hetman auf und somit zu einer Position, die einem Generalfeldmarschall ähnlich ist; Mazeppa war somit Chef der ukrainischen saporoger Kosaken. Das machte ihn zu einem reichen Mann, der über einen immensen Besitz von Landgütern verfügte, und zum Verteidiger gegen Türken- und Tartareneinfälle. Besondere Autorität vermittelte seine Freundschaft zu Zar Peter I., dem er gegen die Türken militärisch zur Seite stand gegen die osmanische Festung Asow, sieben Kilometer vor der Mündung des Don. Die Eroberung gelang am nördlichen Ufer des Schwarzen Meeres und festigte die Freundschaft zwischen beiden Heerführern. Mazeppa unterstützte Zar Peter I. auch im Nordischen Krieg (1700-1721), der zusammen mit Dänemark Schweden angriff, um dessen Vorherrschaft an der Ostsee zu brechen. Als der erst 18-jährige schwedische König Karl XII. Polen angriff, weitete sich der Krieg aus. Polen wurde zum Aufmarschgebiet europäischer Mächte.

Es hatte sich nämlich eine Dreierallianz gebildet, die aus dem Russischen Zarenreich und den beiden Personalunionen Sachsen-Polen und Dänemark-Norwegen bestand. Diese griff im März 1700 das Schwedische Reich an. Trotz der ungünstigen Ausgangslage blieb der schwedische König zunächst siegreich und erreichte, dass Dänemark-Norwegen (1700) und Sachsen-Polen (1706) aus dem Krieg ausschieden. Ab 1708 ging er aufs Ganze und wollte Russland in einem letzten Feldzug besiegen. Dies misslang. Denn die Schweden erlitten in der Schlacht bei Poltawa 1709 eine verheerende Niederlage, welche die Kriegswende bedeutete.
In der Studie „Der Fluch des Imperiums“ (München 2023) weist Martin Schulze Wessel darauf hin, dass sich Hetman Mazeppa die Loyalitätsfrage auf Seiten Peter I. stellte: Schweden unterstützte nämlich den polnischen Gegenkönig Stanislaw Leszczynski, der vorhatte, in die Ukraine einzufallen. Sachsen-Polen war jedoch mit Russland verbündet. Zar Peter I. beschied Hetman Mazeppa, er solle die Ukraine selber, d.h. allein verteidigen. Das löste für diesen den Konflikt aus und er brach mit den Abmachungen mit dem Zaren (im Vertrag von Perejaslav).

Mazeppa löste sich von Peter I. und mit ihm 3.000 Kosaken. Die Ukraine stand ihm näher. Als Rache wurde die kosakische Stadt Baturyn von Russland mit dessen Dragonerregimentern am 13. November 1708 gestürmt und alle 6.000 Bewohner ermordet. Seit 2018 wird in der Ukraine an dieses Massaker erinnert, auch im YouTube-Video „Von Baturyn nach Butscha: Wie Russland versuchte, die Ukraine zu zerstören.“ Geschichte ist immer Gegenwart, vor allem, wenn sie von Mythen getränkt ist.

Noch stärker sind die emotionalen Nachwirkungen von der Schlacht von Poltawa im Juni 1709, identitätsstiftend für Russen ebenso wie für Ukrainer. Die Russen schlugen die Schweden vernichtend. Nach dem russischen Sieg kam die Stadt 1713 zu Russland. Im 18. Jahrhundert wurde die Uspenskij-Kathedrale (1705–1801) gebaut, von der nur der freistehende Glockenturm die Sowjetzeit überstand; das Kirchenschiff wurde 1934 zerstört. Es wurde nach historischem Vorbild neben dem Glockenturm bis 2004 wieder errichtet.

Mythen werden durch Dichtungen befeuert, durch Sprachkunstwerke, die jubeln, beschwören und vernebeln. Mazeppa hatte in seinen Reihen einen Panegyriker, einen Lobredner, dieser wechselte die Fahne und schlug sich auf die Seite des Zaren. Es war der Rektor des Kiewer Kollegiums, Feofan Prokopovic (1681-1736), der nun in einer langen Rede vor dem Zaren Mazeppa verdammte. Schulze Wessel stellte fest: „’Poltava’ wurde zum Gründungsmythos des russischen Imperiums, dessen Fundamente wenige Wochen nach der Schlacht in einer Predigt Prokopovics am 22. Juli 1709 in der Sophienkathedrale in Kyiv (= Kiew, MB) gelegt wurde. Der Theologe feierte den Zaren und formulierte damit Ideen, die für das Selbstverständnis der russischen Herrschaft prägend wurden: Er pries Peter I. nicht nur als siegreichen Feldherrn, sondern auch als Retter des Russlands und als ‚Vater des Vaterlands’.“

Das klingt nach Putins Denken und Reden und ist tief in die russische Staatsdoktrin eingewurzelt. „Vaterland“ als Seelengrundlage und an der Staatsspitze ein „Retter“, der ungerechtfertigte Angriffe abwehrt.

Noch stärker wirkte in der russischen Mentalität das Gedicht Alexander Puschkin (1977-1837) „An die Verleumder Russlands“ aus dem Jahre 1831. In diesem Text ging es primär um die polnischen Aufstände von 1830/31, die europaweite Anteilnahme auslösten und in Deutschland zu einer überschwänglichen Polenbegeisterung führten bis hin zum Hambacher Fest von 1832, wo die Burschenschaften mit den polnischen Dichtern gemeinsam die nationale Hymne sangen „Noch ist Polen nicht verloren“. Im Gedicht „Poltawa“ aus dem Jahre 1828 hatte Puschkin die Mazeppa-Geschichte erzählt, den Verrat am Zaren herausgehoben, um wie in dem anderen Epos zu der in Stein gemeißelten Erkenntnis zu kommen, dass Russland stärker als alle anderen Nationen sei. Diese Erzählung wurde auch in der Mazeppa-Oper von Peter Tschaikowski aus dem Jahre 1884 aufgegriffen; der Komponist schrieb zusammen mit Viktor Burenin das Libretto, das sich an Puschkins Poltawa-Gedicht orientiert und den historischen Kern der Liebesgeschichte indes operngerecht verfremdet.

Puschkins Dichtung ist eine Schauerballade, gerne politisch in Anspruch genommen wird.
„In stählern blankem Waffenstarren, / Sich voller Kraft nicht unser Land?…/ Schickt eure Söhne her zum Streite, / Ihr Redner, wenn ihr Zorn entbrennt: / Für sie ist Platz in Russlands Weite / Bei jenen Gräbern, die ihr kennt.“ Das sind Verse nach russischem Geschmack. Außenminister Lawrow zitierte sie am 1. November 2022 in einem Video.

Nachdem die Ukraine 1991 die staatliche Unabhängigkeit erlangt hatte, nahm sie sich des staatlichen Gedenkens an die Schlacht von Poltawa und so auch das Verhalten des Kosaken-Hetmans Mazeppa völlig anders an. Für sie war dieser ein Freiheitskämpfer und Mitbegründer der staatlichen Souveränität, er habe das russische Unterdrückungssystem bekämpft und sich zu den ukrainischen Kosaken bekannt. Die Zerstörung der Stadt Baturyn durch die Russen im Jahre 1708 gehört in diese Erzählung.

Das Jahr 2009 war für die Ukraine ein besonderer Gedenktag, denn es jährte sich die Schlacht von 1709 zum dreihundertsten Male. Der Hetman Mazeppa wird seitdem als Staatsheld gefeiert und sein Konterfei ist auf dem 10-Hrywnja-Geldschein zu sehen. Die Ukraine kämpft seit dem 24. Februar 2022 um ihr staatliches Überleben, das ihr das russische Regime in Moskau und die große Mehrheit der Russinnen und Russen historisch und rechtlich absprechen und als Teil des dreigliedrigen Imperiums (mit Belarus und Ukraine, das als Kleinrussland bezeichnet wird) sehen. Russische Autoren vom Range Maria Stepanovas (sie wurde 1972 in Moskau geboren, lebt nunmehr in Berlin und erhielt in diesem Jahr den Preis der Leipziger Buchmesse zur Europäischen Verständigung für den Lyrikband „Mädchen ohne Kleider“) sehen das anders und unterwerfen sich nicht dem staatlichen Gedächtnismythos à la Putin, das tief im Zarismus wurzelt.

Denn Gedichte haben eigene Territorien, sie sind uneinnehmbar für alle Diktatoren, in welchem Land auch immer.

Dem Wald ist so dunkel im eigenen Schatten,
Wie er sich auch wälzt –
Geduldig scheuernd
Schürft er Licht bis zum Morgen

dichtet Maria Stepanova.
Für Russland, für uns alle in „Mädchen ohne Kleider“.

Letzte Änderung: 03.07.2023  |  Erstellt am: 03.07.2023

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Kommentare

Dr. med. Henrich Franz-Ferdinand schreibt
Einfach umwerfend, soviel geschichtliches, Musik- und Literaturgeschichtliches, und dann auch noch so aktuell. Danke Matthias Buth! Franz-Ferdinand Henrich
Moshe ben Zvi schreibt
Hervorragendes Essay! Literatur, Geschichte, Musik, Politik, und jedes davon auf welch hohem Niveau! Es ist nicht das erste Essay von Matthias Buth, das ich mit großer Begeisterung lese - in allen seinen Essays über Literatur Kunst,... ist dieses enzyklopädische Wissen und eine freie Fahrt durch die Epochen zu beobachten, verbunden mit einem schönen, feinen erzählerischen Stil.
Dr. Hannelore Furch schreibt
Man erfährt in diesem fundierten Essay viel zur russischen Historie und „Seelengrundlage“ – letzter Begriff als Schnittmenge zu Puschkins Dichtung. Ich zitiere Buth: „„Vaterland“ als Seelengrundlage und an der Staatsspitze ein Retter, der ungerechtfertigte Angriffe abwehrt.“ Im vorletzten Absatz des Essays wird der aktuelle Kampf der Ukraine gegen, so kann man es wohl sagen, eine russische „Seelengrundlage“ thematisiert und zeigt damit die immerwährende Gefährlichkeit des neozaristisch gesinnten russischen Machtapparats, untermauert durch die Mentalität im russischen Volk – eine immerwährende Gefährlichkeit insbes. für die „Kleinrussland“-Staaten.

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