Überleben mit Selbstbeschreibung

Überleben mit Selbstbeschreibung

Karl Otto Mühl – Ein Jahrhundert
Karl Otto Mühl | © Wikimedia Commons

Es sind oft die Greise und Greisinnen, die, bestenfalls, Lebenserfahrungen machen durften und etwas zu erzählen haben. Karl Otto Mühl, von dem es heißt, er sei vor allem als Dramatiker bekannt, hat über zwanzig Bücher verfasst. In seinem letzten, „Mein Leben als Greis“, hat er autobiografische Fragmente versammelt, die Matthias Buth über den gemeinsamen Erinnerungsort Wuppertal zum Sprechen bringt.

Man will es immer wieder: das Zurückkehren an Orte, die vertraut waren und oft noch sind. Nicht immer gelingt es oder ist möglich. Der einst von der SPD zur CDU gewanderte Vertriebenenpolitiker Herbert Hupka, ein Kenner der deutschen Literatur vor allem aus Schlesien, legte bei seiner politischen Semantik Wert auf das „die“. Es müsse heißen: das Recht auf die Heimat und eben nicht das Recht auf Heimat. Nicht irgendeine, sondern die konkrete, meist aus Geburt und Kindheit genährte Vorstellung einer bewahrenswerten Welt. Aber es gibt viele Heimaten und sie wandeln sich, sind diese doch Projektionen und somit unerreichbar.

Ich habe das Privileg, zurückkehren zu können in meine Heimatstadt, der Kindheit und Jugend von 1951–1970 nachzuspüren und zu fragen, was ich wusste und erkannte und was nicht. Nichts hatte ich gehört von Wuppertals Braunem Haus, der Kreisleitung der NSDAP, von 1938 bis 1945 eingerichtet in der sogenannten Frowein-Villa an der Briller Straße, wo nach dem Krieg das Konservatorium eingerichtet wurde, um Klavier- und Geigenunterricht zu erteilen. In welchen Räumen hatte ich da zu üben? Und dass ab 1941 vom Bahnhof Steinbeck 800 Männer und Frauen jüdischen Glaubens zunächst nach Düsseldorf und dann in die Vernichtungslager im Osten deportiert wurden, war in Schule und Elternhaus kein Thema, auch nicht die erste Bücherverbrennung in Deutschland bereits am 1. April 1933 vor dem Barmen Rathaus. Erst Klaus Goebel, Geschichts-Professor aus Ronsdorf, spürte der NS-Geschichte nach wie auch Persönlichkeiten wie Kurt Schnöring mit dem Buch Auschwitz begann in Wuppertal.

Karl Otto Mühl wurde nicht in Wuppertal geboren, das es erst seit 1929 (mit Namen seit 1930) gibt im Zusammenschluss von Elberfeld, Barmen, Cronenberg, Ronsdorf, Vohwinkel und Beyenburg. Er war kein gebürtiger Bergischer, sondern Franke, denn am 16. Februar 1923 kam er in Nürnberg zur Welt. Aber schon 1929 siedelte sich die Familie Mühl im Tal der Wupper an, wo er zur Schule ging, die Realschule abschloss und 1941 in den Krieg ziehen musste. Nach fast zwei Jahren bei Rommels Feldzug in Nordafrika geriet er ab 1942 in Gefangenschaft, erst in Afrika, dann in den USA und Großbritannien, 1947 kam er zurück an die Wupper und holte 1948 am Carl-Duisberg-Gymnasium das Abitur nach. Sein Leben und sein umfangreiches Werk als Autor von Theaterstücken, Romanen, Erzählungen und im hohen Alter auch von Lyrik ist auf dem Resonanzboden der Schwebebahn-Stadt entstanden: ein Heimatdichter, einer der Großen der deutschen Literatur. Schon 1930 schrieb er Geschichten und platzierte sie in der Wuppertaler Presse. Jetzt erschien im wunderbaren Nord-Park Verlag von Alfred Miersch – ein Einzelkämpfer als Autor und Verleger – Mein Leben als Greis, hundert Jahre Karl Otto Mühl, der Poet, der 2020 im biblischen Alter von fast 98 Jahren verstorben ist.

„Was heute gerne nicht erwähnt wird: Lust glitzerte überall in den Ritzen des Unrechtsstaates. Sie glitzerte bei den Bildern von ‚Kraft durch Freude-Reisen’ nach Norwegen, bei Aufmärschen, Lob, Anerkennung, Auszeichnung; bei Rückkehr der Jungen mit Tornistern von Fahrt, Zeltlager, Jugendherberge, fröhlichen Leuten beim Erbsensuppenessen, keulenschwingenden BDM-Mädchen im Stadion, winkenden Männern mit nacktem Oberkörper beim Autobahnbau, haarknotenbewehrten jungen Frauen bei ‚Glaube und Schönheit-Gymnastik’ oder beim Nähen und Betreuen – alles so dargestellt, als hätten Hitler und seine Leute es erst erfunden.“ Diese Reminiszenz des greisen Erzählers will man an sich nicht lesen, klingt sie doch wie ein Film von Leni Riefenstahl, wie aus „Olympia“ aus dem Jahre 1938. Und doch ist von Belang, sich der erotisierenden Wucht der NS-Ikonographie zu nähern, der Vereinnahmung der Gefühle, welche sich der Lust bediente und dies in einer Bevölkerung, die im Kaiserreich, die durch die Codices des 19. Jahrhunderts, sozialisiert war.

Mühl war ein musikalischer oder besser: sentimentalischer Mensch. So überrascht der Rückblick auf das NS-Wuppertal umso weniger, wenn man diese Passage liest: „Ich sehe mich als Fünfjährigen im grünen Vorstadtgartendschungel unserer Siedlung. Sehr allein stehe ich da. Ich habe kurze Hosen aus braunem Samt an. Meine Mutter hat sie mir genäht. Wenn sie auf unserem Grammofon die Serenade von Schubert abspielte, weinte ich vor Wehmut.“

Sein letztes Buch ist eine Folge kleiner Begebenheiten aus dem Wuppertaler Alltag und vom Alltag des Sterbens – von Freunden, Freudinnen und ein stilles Beobachten am Rand der eigenen Zeit. Keine Aphorismus-Sammlung, keine Zuspitzung und Verdichtung wie beim Buch der Unruhe von Fernando Pessoa. Mühl bleibt bei sich, beim Erzählen des Unwichtigen, dessen Kern er offenlegt und so zum existentiellen Befund gelangt. „Der Zug sägt sich durch das Grün. Es dürfte von mir aus noch lange so weiter gehen, denn die Ewigkeit hat ja ohnehin schon begonnen“, schreibt er auf Seite 119 und lässt so wie auch an vielen anderen Stellen die bergische Frömmigkeit durchscheinen, die durchaus nicht pietistisch durchwirkt ist, aber von einer souveränen Gotteszuversicht getragen.

Wuppertal war und ist auch eine Literaturstadt, zuweilen sehr im Schatten der Dichterin und Dramatikerin Else Lasker-Schüler. Wer kennt noch Paul Pörtner, der 1925 in Elberfeld geboren wurde und 1984 in München starb? Als Übersetzer (aus dem Französischen), Autor von über 20 Hörspielen, Lyriker und Stückeschreiber kam er aus dem Wuppertaler Arbeitermilieu, war an den Bühnen in Barmen und Remscheid tätig, gründete 1945 die Künstlervereinigung Der Turm. Er war dem Expressionismus nahe, gab als erster die Gedichte von Jacob van Hoddis heraus und erfand mit dem Stück Scherenschnitt oder Der Mörder sind Sie eine neue Form des Theaters, eines, welche das Publikum zum Mitspielen aufforderte. Karl Otto Mühl kannte ihn, sie waren sich nah in Geisterhaltung und Weltsicht. Und dazu gehörte auch Tankred Dorst (1925-2017) sowie der große Schauspieler Harald Leipnitz (1926-2000); er entdeckte Mühl. Und so schreibt er: „Ich dachte daran, dass er als erster in meinem Leben eine Geschichte von mir vorgelesen hat. Das war 1947 in der ‚Kunststube Leithäuser’, einem Ladengeschäft im angeschlagenen Von der Heydt-Museum Wuppertals. Die Wuppertaler Künstler der ersten Stunde waren dabei; natürlich auch Paul Pörtner und Tankred Dorst. Ich glaube, er las seine Geschichte ‚Esther geht zum König’ vor. Ich habe noch niemanden getroffen, der Harald Leipnitz nicht mochte, den liebenswürdigen Jungen aus der Wuppertaler Varresbeck.“

Dass Dorst, der seinen Namen von Georg in Tankred wandelte, so nah mit Wuppertal und mit Karl Otto Mühl verbunden war, ist kaum bekannt, siedelte man ihn doch eher in München an und an die große Welt des Theaters. Aber er machte nach dem Krieg in Lüdinghausen das Abitur nach. Mühl und Dorst waren Freunde. Der unterschiedliche soziale Start oder Status – Mühl aus sogenannten kleinen Verhältnissen kommend, Dorst der Berliner Großbürger, der Weltliteratur wollte – klingt in manchen Passagen dieses Buches an. Anrührend ist der Nekrolog, den Mühl dem Freund schreibt und sogleich ein Stück Stadtgeschichte aufleben lässt: „Du warst der einzige meiner Freunde aus der Kriegszeit und Du warst und bliebst der wichtigste von ihnen. Als wir uns 1944 in einem amerikanischen Kriegsgefangenenlager kennenlernten, glaubten wir so viele Gemeinsamkeiten aneinander zu entdecken, dass wir uns nie mehr allein fühlen würden. Du warst gerade neunzehn Jahre als, hattest die Schule hinter Dir und warst als Fallschirmjäger wie ich in Nordfrankreich in Gefangenschaft geraten, während ich bereits 1942 in Nordafrika gefangen wurde. Jetzt arbeiteten wir beide in Nachtschicht in einer Marmeladenfabrik – Du in Plastikschutz-kleidung an einer Traubenpresse, rot übergossen mit Traubensaft. Wir identifizierten einander, als wir uns nach der Arbeit in Kladden gegenübersaßen.“ Das weiter ausgeführte Portrait ist von liebenswürdigem Charme und zieht den Bogen zu Paul Pörtner hin zu Arno Wüstenhöfer (1920-2003), dem bedeutenden Schauspieler und vor allem Wuppertaler Intendanten (inzwischen mit einem nach ihm benannte Weg geehrt).

Sterben ist keine weiche Harfe, auch wenn Eros und Thanatos Geliebte sind. Karl Otto Mühl hatte immer einen Blick für Frauen, seine Jahrzehnte jüngere Ehe- und Lebenspartnerin Dagmar war ihm das andere Ich, auch wenn sie hier nicht angesprochen wird. Wer die 90 erreicht, sieht den Abschied in allem. In diesem Passagenbuch ist er allgegenwärtig, aber ohne Bitternis, eher von Noblesse getragen. Aufrecht gehen bis zum Schluss, das war seine Devise. „Dann stehen meine Atemzüge / wie Zypressen / an meinem Lager, wenn/ leicht ein Vogel / sich nach oben schwingt“, heißt der Beginn des eingestreuten Gedichts Ende.

Richtig wahrgenommen auf den Bühnen des Theaters und der Literatur wurde er durch das Drama Rheinpromenade, das 1974 in Wuppertal uraufgeführt und sodann an 60 Bühnen nachgespielt wurde, eine anrührende Liebesgeschichte eines Rentners und eines jungen debilen Mädchens. In den 70er und 80er Jahren war Mühl einer der erfolgreichsten deutschen Bühnenautoren mit insgesamt zwölf Stücken, alle auch zu Hörspielen entwickelt. Er schrieb für sogenannten die kleinen Leute, erkannte die Welt im Fingerhut und blieb sich so treu, sich und der Stadt an der Wupper. Tankred Dorst erkannte das, den „melancholischen“ Zugang auf Ängste, Vergeblichkeiten und kleinen Glücksmomenten des Alltags. Mühl war gelernte Exportkaufmann. In seinen Dramen, Hörspielen, Prosaminiaturen, und auch in den Gedichten schilderte er ohne große Geste die Innenwelt seiner Erfahrungen und Einsichten, unverwechselbar. Er war auch ein Romancier von Rang. Wer sich mit der Nachkriegszeit befassen will, sollte wieder den Roman Siebenschläfer zur Hand nehmen und sich auch auf die Romane Trumpeners Irrtum und Jacobs seltsame Uhren einlassen. Mühl nobilitierte den Begriff Heimat. Wuppertal hat ihm viel zu verdanken und zugleich dem unermüdlichen Ein-Mann-Konzern von Alfred Miersch des NordPark Verlages, seine letzte publizistische Heimat.

Letzte Änderung: 14.01.2024  |  Erstellt am: 13.01.2024

Mein Leben als Greis | © Wikimedia Commons

Karl Otto Mühl Mein Leben als Greis

Mit einem Vorwort von Patrick Gurris
308 S., brosch.
ISBN: 978-3-943940-77-0
NordPark Verlag, Wuppertal 2023

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