Nelken im Überfluss

Nelken im Überfluss

Pina Bauschs „Nelken"
Nelken | © Oliver Look

Gibt es ein Ballett, das sich nicht um die Liebe dreht? Man könnte meinen, da wüsste man wenigstens, was einen erwartet. Nicht, wenn Pina Bausch sich des Themas annimmt. Sie fragt nämlich, um was für eine Art von Liebe es sich handelt. Und erst beim Probieren dieser oft problematischen Aspekte findet der Tanz seine Tanzbarkeit. Walter H. Krämer verbreitet in seiner Vorschau auf die Wuppertaler Neuauflage der „Nelken“ einen vielversprechenden Duft.

„Pina Bausch oder Die Kunst über Nelken zu tanzen“* ist der Titel eines Buches, und dieser beschreibt gut, worum es in „Nelken“, einem Stück von Pina Bausch aus dem Jahre 1982, geht.

Eine erneute Wiederaufnahme dieser legendären Produktion ist ab dem 27. Januar 2024 in Wuppertal – und später in London und Luxembourg – zu sehen. Die Idee zu „Nelken“ kam Pina auf einer Südamerikatournee, wo sie ein riesiges Blumenfeld aus rosafarbenen Nelken sah. Ihr Bühnenbildner Peter Papst machte dann daraus ein hinterhältiges Meer, auf dem tanzen erst einmal unmöglich war. Rosa Nelken im Überfluss – es sind rund achttausend aus Plastik angefertigt und täuschend echt. Das passte. Denn Tanz ist im Theater von Pina Bausch nie nur ein Zeitvertreib, sondern Voraussetzung, um andere physische, seelische und soziale Erfahrungen zu machen und davon auf der Bühne zu berichten. Zu Beginn bewegen sich die Tänzer und Tänzerinnen nur langsam durch das Blütenmeer, um keine der zarten Gewächse zu zertreten. Im Laufe des Stückes wird es noch wild zugehen und die Kunstnelken werden am Boden liegen.

Nelken. Ensemble | © Foto: Oliver Look

Ende der siebziger Jahre hatte Pina Bausch angefangen, keine abgeschlossenen Tanzstücke mehr zu konzipieren, sondern einzelne Szenen mit- und ineinander zu montieren und unterschiedliche Musikstile und Lieder zu verwenden. In „Nelken“ beispielsweise erklingt Musik von Franz Schubert, George Gershwin, Franz Lehár, Louis Armstrong, Sophie Tucker, Quincy Jones, Richard Tauber u.a.
In „Nelken“ geht es um die Liebe, wie sie kommt und wie sie geht und am Ende ein Blumenfeld aus rosa Plastik-Nelken auf dem Bühnenboden zertrampelt zurücklässt. Es geht um das Spiel, die Kindheit, die ersten Liebeswirren und die Fragen nach dem Sinn des Tanzes. Wie meist beginnt die Probenarbeit bei Pina mit Fragen und Aufgaben an die Tänzer*innen. Aus diesem Material formt und choreografiert Pina Bausch dann ihre Stücke.

Folgende Fragen und Aufgaben – abgedruckt im Programmheft zu „Nelken“ – stellte die Choreografin am Beginn der Proben in den Raum und motivierte die Companie sich dazu sprachlich und tänzerisch zu verhalten: „Etwas über Eure erste Liebe / Wie habt Ihr Euch als Kind die Liebe vorgestellt? / Zwei Sätze über die Liebe / Wie stellt Ihr Euch die Liebe vor? / Wenn Euch jemand zur Liebe zwingen will – wie reagiert Ihr da? / Stichwort: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst! / Noch einmal einen kleinen Beitrag zum Thema Liebe.“

Vom Band erklingt die Stimme Richard Taubers „Schön ist die Welt, wenn das Glück dir ein Märchen erzählt“. Allmählich verklingt das Lied und die Tänzer*innen bahnen sich vorsichtig einen Weg durch die aufgesteckten Nelken hinunter zum Publikum und bitten einzelne Zuschauer*innen hinaus vor die Tür. Dann erklingt Sophie Tuckers Version des Gershwin Songs „The Man I Love“, das einer der Tänzer in Gebärdensprache übersetzt. Das Lied beschwört den Traum vom kleinen Glück, vom Lieben und Geliebt werden. Zeigt aber auch die Ambivalenz von Gefühlen und die Gefährdung der Liebe.
Zentrales Moment der Inszenierung ist die etwa 15minütige Sequenz zum langsamen Satz von Franz Schuberts Streichquartett d-Moll „Der Tod und das Mädchen“, in der Brüche und Spannungen rund um das Thema Liebe sichtbar und auf die Spitze getrieben werden. Und dass die Liebe ein gefährliches Pflaster ist – das machen nicht zuletzt Wachmänner deutlich, die mit Schäferhunden das Blumenfeld umkreisen.

Nelken. Ensemble | © Foto: Oliver Look

Pina Bausch ist im Juni 2009 gestorben – vier Wochen nach der Premiere ihrer letzten Inszenierung. Geblieben ist die Erinnerung an diese Pionierin des Tanzes und ihre wunderbaren Choreographien, die das Tanztheater Wuppertal Pina Bausch hütet wie einen Schatz, der immer wieder gehoben wird und einzelne „Perlen“ davon aufgeführt. Zum Glück für alle Menschen, die sich für Tanztheater begeistern können und wollen.

Aufgrund der besonderen Arbeitsweise der Choreographin entstand eine riesige Materialsammlung, von der am Ende nur etwa ein Zehntel zur Aufführung kam. Unökonomisch zwar, aber dafür mit einmaligem Ergebnis: Es konnte nur zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort mit ganz bestimmten Menschen zustande kommen.

Niemand aus der ursprünglichen Besetzung ist mehr dabei. Und die Neuen – angeleitet durch Tänzer*innen der Uraufführung und späterer Wiederaufnahmen – versuchen es den Vorgänger*innen gleichzutun, die ihre Rollen, animiert durch die Fragen von Pina Bausch, während der Proben einst selber schufen. Ausdruck, Haltung und Text haben also andere gefunden, die heute nicht mehr mittanzen. Kann solch persönliches Material, für das jemand vor langer Zeit in der Lichtburg improvisierend über die eigenen Schamgrenzen ging, Spielvorlage für spätere Darsteller sein? Ich denke ja – auch wenn jede Übernahme dem Stück neue persönliche Nuancen und Facetten verleiht.

In „Nelken“ überquert eine Tänzerin, mit Unterhose und Ziehharmonika bekleidet, die Bühne. Sie ist nackter als nackt und kommt immer wieder, wie Träume immer wieder kommen, die die erlösende Fortsetzung verweigern. Das Ensemble insgesamt vermittelt und blickt auf Momente einer tragischen, grausamen, zärtlichen und von Menschlichkeit geprägten Welt. Worte, Bilder und Bewegungen bewegen intuitiv persönliche Gefühle, die auch die Zuschauer*innen nicht unberührt lassen. Und nicht zu vergessen: Auch in „Nelken“ wird in Formation getanzt – die berühmte Nelkenformation „Frühling Sommer Herbst Winter“ – vielleicht die bekannteste Reihe aus einem Stück von Pina Bausch.
 
 
 
 
https://www.pina-bausch.de/de/plays/25/nelken

https://www.pinabausch.org/de

Choreografie / Inszenierung – Pina Bausch / Dramaturgie – Raimund Hoghe / Bühne – Peter Pabst / Kostüme – Marion Cito
Uraufführung – 30. Dezember 1982, Opernhaus Wuppertal / Dauer – 1h 50min

*Leonetta Bentivoglio und Francesco Carbone, Pina Bausch oder Die Kunst über Nelken zu tanzen, Suhrkamp Taschenbuch 2007

Termine für „Nelken“: In Wuppertal am 27.01., 28.01., 30.01., 31.01., 02.02., 03.02., 04.02.2024
In London am 14.02., 15.02., 16.02., 17.02., 19.02., 20.02., 21.02., 22.02.2024
In Luxembourg am 13.03., 14.03., 15.03.2024

Der Vorverkauf für Vorstellungen in Wuppertal beginnt am: 01.12.2023

Letzte Änderung: 06.02.2024  |  Erstellt am: 22.11.2023

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