Produzenten machen Druck

Produzenten machen Druck

Robert Wise im Gespräch mit Marli Feldvoß

East Side Story sollte das Musical heißen. Der Komponist Leonard Bernstein entschied sich für „West Side Story“. Die filmische Realisierung des Bühnenstücks übernahm, zusammen mit dem Choreografen Jerome Robbins, Robert Wise, der, auch als Editor, für „Citizen Kane“, „Der Glöckner von Notre Dame“, „Die Hindenburg“, „Star Trek: Der Film“ und viele andere bekannt wurde. 1996 hat Marli Feldvoß in München mit ihm gesprochen.

Marli Feldvoß: Mister Wise, Sie haben es dem Zufall zu verdanken, dass Sie Regisseur geworden sind. Es hört sich wie eine typisch amerikanische Erfolgsstory an. Sie gingen nach Hollywood und kamen gleich beim Film unter, wenn auch zunächst als Kistenschlepper. Es gab ja noch keine Filmschulen. Haben damals alle so angefangen wie Sie?

Robert Wise: Es gab verschiedene Wege hineinzukommen. Mir hat mein älterer Bruder geholfen. Aber ich rate den jungen Leuten von heute nichts anderes. Seid nicht zu hochnäsig! Ihr müsst einen Fuß in die Tür kriegen. Ihr müsst erst einmal in ein Studio oder eine Gesellschaft oder Organisation reinkommen. Und sich dann hochkämpfen. Viele, die in Hollywood Erfolg hatten, haben auf der Poststelle angefangen.

Sie wurden bei RKO erst als Toncutter, dann als Cutter ausgebildet, und Sie hatten das Glück, dass Sie gleich mit dem Wunderkind Orson Welles zusammentrafen und an dem großen, Filmgeschichte schreibenden Werk Citizen Kane beteiligt waren. Wie kam es dazu?

Ich war als Cutter bei RKO angestellt und hatte gerade Meine Lieblingsfrau mit Cary Grant und Irene Dunne fertiggeschnitten. Da rief mich montagsmorgens mein Boss James Wilkinson an und sagte: Weißt Du, dass dieser Orson Welles bei uns im Studio ist? Ich sagte: Ja, ich kenne ihn. Ich habe ihn zwar noch nicht gesehen, aber ich kenne seinen Ruf und seine New Yorker Theaterarbeit und seine berühmte Radio-Sendung, warum? Orson hat das Studio reingelegt. Er hatte das Okay, drei Probe-Szenen zu drehen, und er hat einfach angefangen, seinen Film zu drehen. So haben sie ihn weiterdrehen lassen.

Wie war Orson Welles?

Orson Welles war wohl näher an einem Genie als irgendjemand sonst, den ich in der Filmbranche getroffen habe. Er war einfach brillant, besonders in seinem ersten Film Citizen Kane. Er hat nie mehr diese Konzentration erreicht. Kane war sein Leben. Das war sein Baby. Er war entschlossen, den epochemachenden Film zu drehen, der er geworden ist. Später, beim Glanz des Hauses Amberson, drehten wir sechs Tage die Woche und sonntags machte er seine Radiosendung “The Lady-Esther-Show”. Aber dann hatte er eine von diesen verrückten Ideen, griff sich ein Drehbuch aus dem Regal und drehte mit Jo Cotten und Dolores Del Rio, seiner damaligen Freundin, in den Hauptrollen Journey Into Fear. Und er, Orson Welles, musste unbedingt die dritte Hauptrolle spielen, einen türkischen General. Die letzten 6, 7 Wochen Drehzeit der Ambersons führte Welles tagsüber Regie und spielte nachts seine Hauptrolle in Journey Into Fear. Er war ein Extremist. Er konnte so unverschämt werden, dass man ihn am liebsten nur noch angeschrien hätte und verschwunden wäre. Aber dann hatte er wieder eine so unwerfende Idee, dass man mit offenem Mund dastand und nicht ging, sondern blieb. Für mich gibt es zwei Gründe, warum Orson seine Karriere nicht weiterentwickeln konnte. Es war seine Persönlichkeit. Seine Maßlosigkeit und seine mangelnde Selbstdisziplin. Er wollte machen, was er wollte und wann er es wollte. Das ist seine ganze Geschichte.

Wenn Sie über Ihre Filme sprechen, sagen Sie oft: Wir waren im Rückstand. Heißt das, dass es zu den höchsten Qualitäten eines Regisseurs gehört, dass er den Zeitplan einhält?

Es bedeutet Druck. Ich glaube, ich habe keinen einzigen Film innerhalb der vorgesehenen Zeit abgedreht, vielleicht einen. Die Produzenten machen Druck. Sie bringen das Geld auf, und wenn man zu sehr im Rückstand ist, heißt das, das Budget überziehen. Und wenn es zu teuer wird, sind sie unzufrieden. Dann soll man aufholen, schneller drehen, die Zeit wieder gutmachen. Ich habe oft gesagt: Regieführen wäre der größte Spaß auf Erden, wenn es nicht zwei Dinge gäbe: Zeitpläne und Budgets.
Aber zu Studio-Zeiten hatten wir einen Vorteil, das war die Kontinuität.
Als ich in den dreißiger Jahren anfing, und das ging so bis Mitte der fünfziger, machten alle großen Studios sechzig Spielfilme pro Jahr. Jedes Studio. Man drehte einen Film ab, und schon kam der nächste dran. Das war sehr stimulierend. Aber als durch das Fernsehen die Zuschauerzahlen zurückgingen, haben die Studios ihre Vertragsschauspieler, Regisseure und Autoren abgebaut und die Zahlen zurückgeschraubt auf 18 bis 22 Filme. Dabei ging auch ein Stück Energie verloren.

Im Studio arbeiten, das hieß Teamarbeit. Aber schon früh kam die Frage auf, wer nun eigentlich der Autor eines Films sei, der Drehbuchautor oder der Regisseur. Später, als die Cahiers du Cinéma die Autoren-Theorie erfunden haben, wurde der Regisseur plötzlich sehr aufgewertet. Wie war es zu Ihrer Zeit?

Ich stieg in das Projekt ein, als der erste Drehbuchentwurf schon fertig war und als das Studio sich für den Produzenten und für das Projekt entschieden hatte. Erst dann wurde ein Regisseur beauftragt.

Es gab eine Grundregel: Das Drehbuch bedeutet Set.

Das heißt: Wenn man zu drehen anfängt, wird das gedreht, was auf dem Blatt steht. Man versucht es zumindest. Wenn man das Drehbuch vorher zu sehen kriegt und etwas ändern möchte, kann man das in die Skript-Änderungen einbringen. In Hollywood fängt man mit weißem Papier an. Die Änderungen kommen dann in Blau, in Grün, in Gelb bis zur letzten Fassung. Umgeschrieben wird oft bis Drehbeginn und manchmal geht es bis in die Drehzeit hinein.

Ich habe gerade drei Ihrer Filme gesehen und bin ganz begeistert von den opening-shots, besonders von Westside-Story. Standen diese Einstellungen im Drehbuch oder woher kommen sie?

Die Eröffnung von Westside-Story war meine Idee. Ich bestand darauf, dass wir die Tagesaufnahmen direkt in New York drehten. Den Sonnenuntergang, die Nachtaufnahmen und die Straßenszenen konnten wir dann im Studio weiterdrehen. Ich konnte das Studio überzeugen, obwohl sie zunächst dagegen waren, weil es so teuer war. Aber ich musste New York irgendwie rüberbringen, und ich wollte nicht das alte Schema – den Fluß, die Brücke, die Skyline. Ich überlegte mir, wie New York wohl aussehen würde, wenn man direkt nach unten schaute und nahm mir einen Hubschrauber. Das wurde meine Eröffnung. Das ist New York, das noch keiner gesehen hatte, nicht einmal die New Yorker selbst. Und dann überlegte ich mir, wie ich vom realen über ein abstraktes New York den Zuschauer in eine Stimmung versetzen könnte, dass er diese tanzenden Kids auf den Straßen akzeptiert. Das ist ja nicht so real, aber es geschieht ein paar Minuten später. Das ist die ganze Entstehungsgeschichte.

War es ein Problem für Sie, dass Sie nicht als ein „Autor“ gelten?

Nein. Außer, dass ich meiner Frau sagte, dass ich bei meiner nächsten Wiedergeburt doch lieber als ein schreibender Regisseur auf die Erde kommen würde.
 
 

Das Gespräch fand beim Münchner Filmfest 1996 statt.

Letzte Änderung: 11.06.2023  |  Erstellt am: 11.07.2023

divider

Kommentare

Es wurde noch kein Kommentar eingetragen.

Kommentar eintragen