Es ist wirklich zu toll!

Es ist wirklich zu toll!

Die Erfindung der Sprechblase
Bayerischer Soldat | © Franz Graf von Pocci

Der Schweizer Zeichner und Novellist Rodolphe Töpffer (1799–1846) gilt als der Begründer des Comics. Seine Bildergeschichten inspirierten den Bayern Franz von Pocci (1807–1876), der, soweit bekannt, die erste Sprechblase in ein Bild einfügte. Michael Stephan hat sich intensiv mit ihrem Schaffen, insbesondere dem Poccis beschäftigt.

Der Ursprung des Comics und die Erfindung der Sprechblase

Rodolphe Töpffer um 1840

Um das Werk Poccis zu verstehen, lohnt es sich, einen ausführlicheren Blick auf seinen Vorläufer Töpffer zu werfen. Dieser ist neben seinen Reisebeschreibungen (z.B. Voyages en zigzag, 1844) vor allem für seine in der Freizeit gezeichneten komischen, teils skurrilen Bildergeschichten bekannt geworden. 1827 erschien Les Amours de Monsieur Vieux-Bois, die wie alle seine bis 1845 geschaffenen Bildergeschichten zunächst als handgefertigte Einzelexemplare erschienen und die in einem stets größeren Kreis – auch in Deutschland – zirkulierten.

1829 schuf er eine Faust-Parodie mit einer neuartigen Verknüpfung von Text und Bild. Über einen alten Schulfreund lernte Töpffer 1830 Goethes Sekretär Johann Peter Eckermann kennen, der ihn bat, ihm einige seiner Zeichnungen per Post zukommen zu lassen, um sie dem großen deutschen Dichterfürsten höchstselbst zu zeigen. Le docteur Festus stieß auf große Begeisterung, da Goethe sich in der Namensverwandtschaft zu seinem „Faust“ geschmeichelt fühlte. In einem Brief vom 4. Januar 1831 an Eckermann urteilte er: „Töpffer ist Original durch und durch. Es ist wirklich zu toll! Es funkelt alles von Talent und Geist! Einige Blätter sind ganz unübertrefflich!“ Dieses Lob Goethes ermutigte Töpffer, seine gezeichneten Geschichten tatsächlich zu veröffentlichen und wurde so zum Pionier der Karikatur und des Comics.

Töpffer karikierte in seinen Geschichten u.a. die Gepflogenheiten der guten Gesellschaft (Histoire de Monsieur Jabot, 1833), die Unterrichtsmethoden (Monsieur Crépin, 1837) oder die Politiker (Monsieur Pencil, 1831) und Histoire d’Albert, 1844).

Titelblatt von Töpffers „Histoire de Monsieur Cryptogame“, 1845

Töpffers letzte und vielleicht interessanteste Bildergeschichte ist Histoire de Monsieur Cryptogame, die 1830 in ersten Einzelblättern entstand, 1845 als Fortsetzung in der Pariser Zeitschrift L’Illustration gedruckt erschien und ein Jahr später auch in Buchform veröffentlicht wurde. Wieder einmal variiert Töpffer eines seiner Lieblingsthemen: das der Liebestollen. Anders jedoch als in Les Amours de Monsieur Vieux-Bois jagt der titelgebende Monsieur Cryptogame nicht einem geliebten Ding hinterher, sondern flieht vor seiner vom Wunsch nach Heirat getriebenen Verlobten Elvire um die ganze Welt.

Töpffer ist mit diesen Bildergeschichten der Begründer einer Tradition, die über die Bilderbögen (z.B. Neuruppiner Bilderbogen, Münchener Bilderbogen), die Arbeiten Wilhelm Buschs und unter dem Einfluss der amerikanischen Comics zum europäischen Comic führt. Und es gab einen, der sehr zeitnah Töpffers Bildergeschichten rezipiert und auf seine Art umgesetzt hat: Franz von Pocci.

Porträt Poccis, Fotografie, um 1855

Pocci wurde am 7. März 1807 in München geboren. Sein Vater Fabricius Evaristus Graf Pocci stammte aus Viterbo in Italien, diente aber bereits viele Jahre im bayerischen Militär und stieg dort bis zum Generalleutnant auf. 1826 wurde er Obersthofmeister der Königin Therese, der Ehefrau von König Ludwig I. von Bayern.

Der junge Pocci studierte Rechtswissenschaften an der Universität, die sich von 1800 bis 1826 in Landshut befand. Er war Mitglied im dortigen 1821 gegründeten Corps Isaria. Für diese Studentenverbindung komponierte Pocci – auch das gehört zu seinen vielfältigen künstlerischen Talenten – im Jahr 1825 die Melodie zu dem bekannten Lied „Wenn ich ein Vöglein wär“. Nach dem Studium wechselte Pocci in den Dienst des bayerischen Königshauses, für das er unter drei Königen – fast ein halbes Jahrhundert lang – verschiedene Hofämter ausübte.

Neben seinem Beruf ging Pocci leidenschaftlich seinen künstlerischen Neigungen nach: er komponierte, zeichnete und dichtete. Pocci wurde wegen seiner literarischen Leistungen am 11. Dezember 1854 sogar die Ehrendoktorwürde der Philosophischen Fakultät der Universität München verliehen. Am bekanntesten wurde Pocci jedoch mit seinen 42 Kasperlstücken, die er seit 1858 für das neue, von ihm mitbegründete Münchner Marionettentheater von Joseph Leonhard Schmid geschrieben hat – daher sein Spitzname „Kasperlgraf“. Pocci starb am 7. Mai 1876 in München.

„Der Staatshämorrhoidarius auf dem Bureau“, 1853

Ein Ventil für die Strenge des Hofdienstes war für Pocci immer das Zeichnen. Er war sein Leben lang ein unermüdlicher Zeichner und Aquarellist, immer voll skurrilen Humors und romantischer Phantastik. Als boshafter Karikaturist ist er bekannt geworden durch eine fast zeitlose Beamtensatire, mit seiner legendären Figur des Staatshämorrhoidarius, die er als Holzstiche in vielen Folgen ab 1845 in den Fliegenden Blättern, der ersten humoristischen Zeitschrift Deutschlands, im Verlag Braun & Schneider veröffentlicht hat. Mit Rücksicht auf seine Hofämter erschienen Poccis Zeichnungen und Texte anonym, nur gelegentlich signiert mit F.P.
Pocci war Mitglied in vielen Vereinen bzw. geselligen Vereinigungen, die es in München im 19. Jahrhundert in großer Zahl gab. Neben der 1837 von Pocci mitbegründeten Gesellschaft der Zwanglosen ist hier vor allem die Herrengesellschaft Altengland zu nennen. Für die Anglia, wie die Vereinigung auch genannt wurde, hat Pocci von 1840 bis zu seinem Tod 1876 als – wie er sich selbst bezeichnete – „Pasquillant“, also als Spötter, ca. 1440 Karikaturen und Bildergeschichten geschaffen. Mit den einst in zehn Alben gesammelten Karikaturen hat Pocci den Anglia-Mitgliedern ein humorvolles Denkmal gesetzt und ein zeitgeschichtliches Dokument ersten Ranges geschaffen.

In deutlicher Anlehnung an Rodolphe Töpffer, besonders auch in der Titulierung an dessen Bildergeschichte Histoire de Monsieur Cryptogame, schuf Pocci noch im selben Jahr 1845 eine Histoire de Monsieur Spinat, eine private, für den Freundeskreis der Anglia geschaffene Federzeichnung, bestehend aus elf nummerierten Bildern.

Poccis „Histoire de Monsieur Spinat“, 1845, Anglia Nr. 772: Titelblatt

Diese Bildergeschichte erzählt von einem Streit bei einem Anglia-Treffen, in der Johann Nepomuk von Sutner (Monsieur Spinat), im richtigen Leben Chef der Staatssschuldentilgungskommission, die Hauptrolle spielt, bei der wir aber auch einige andere Mitglieder der Herrengesellschaft kennenlernen.

Das Bild Nr. 9 dieser Bildergeschichte ist das interessanteste, aber nicht wegen des „schiffenden“ Arztes Franz Christoph von Rothmund.

Poccis „Histoire de Monsieur Spinat“, 1845, Anglia Nr. 781: „M(onsieu)r Spinat tritt grasgrün aus Wuth ab, während Rothmund ruhig im Mondschein schifft.“)

Es geht um die Sprechblase, die Pocci hier erstmals in der deutschen Comic-Geschichte zum Einsatz bringt (so etwas verwendete Töpffer noch nicht). Mit der Sprechblase lässt Pocci den Sutner ausrufen: „Meine Herrn, alles hat seine Grenzen! Sonst haben Sie mich zum letzten Mal gesehen!“

Diese „Histoire“ entstand gleichzeitig mit vier ähnlichen Bildergeschichten, die aber erst später zusammen als ein „Intermezzo aus guter, alter Zeit“ von Pocci in das Anglia-Album V eingeklebt wurden, das die Jahre 1855 bis 1860 umfasst.

Titelblatt für die fünf Bildergeschichten Poccis im Anglia-Album V

Diese anderen Bildergeschichten sind ähnlich im Aufbau und stellen jeweils ein Mitglied der Gesellschaft vor. Die ersten drei Geschichten über Monsieur le Noir (Franz von Kobell), Monsieur le Maigre (Pocci selber) und Monsieur le Gros (Karl Graf von Spreti) sind französisch betextet – auch das eine Anlehnung an das Vorbild Rodolphe Töpffer. Die vierte Bildergeschichte über Monsieur Mörtl (der Architekt und Baumeister Ludwig von Gärtner) hat wie die letzte über Monsieur Spinat einen deutschen Text. Alle Bildergeschichten bestehen aus mehreren Einzelblättern, die durchnummeriert sind.

Dieses Album V befand sich bis Juli 2022 im Besitz der Münchener Künstlergenossenschaft (MKG). Ursprünglich waren dort einmal alle zehn Alben der Jahre 1840 bis 1888 (mit insgesamt 1615 Nummern) vorhanden. Leider begann die MKG, die immer knapp bei Kasse war, ab einem unbekannten Zeitpunkt, Blätter aus den Alben herauszutrennen bzw. einige Alben ganz aufzulösen, um die Karikaturen einzeln zu verkaufen, die heute in vielen öffentlichen Sammlungen und in Privatbesitz zu finden sind. Auch die 2002 gegründete Franz-Graf-von Pocci-Gesellschaft besitzt fast 50 Blätter und hat zu ihrem 20jährigen Jubiläum eine Publikation über 136 unveröffentlichte Karikaturen Poccis aus ihrem Besitz und dem ihrer Mitglieder herausgegeben.
 
 
Auf Initiative der Pocci-Gesellschaft hat die Bayerische Staatsbibliothek die bislang bei der MKG noch vorhandenen fünf Restalben (II, III, V, VII, IX) sowie Fragmente von Album X mit insgesamt 460 Karikaturen Poccis und seines Nachfolgers als Anglia-Karikaturisten, Ludwig Graf von Otting, angekauft und so vor weiterer Zerstreuung bewahrt.

Letzte Änderung: 16.03.2023  |  Erstellt am: 13.03.2023

Franz von Pocci | © Franz Graf von Pocci

Michael Stephan Franz von Pocci

Unveröffentlichte Karikaturen für die Gesellschaft „Altengland“ von 1840 bis 1876
288 S., geb.
ISBN: 978-3-946375-10-4
Apelles-Verlag, Starnberg 2021

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