Medizin in Not (III)

Medizin in Not (III)

Das Sterben in Zeitlupe
 | © Bernd Leukert

Der demographische Wandel, bei dem immer weniger Junge für immer mehr Alte aufkommen müssen, bringt, verstärkt durch die jüngste Pandemie, Siechtum und Sterben ins Bewusstsein zurück. Die Personelle Unterversorgung in fast allen Bereichen, die sich darauf beziehen, macht das Ableben zum Skandal. Wie verhält sich die moderne Medizin zum Pflegenotstand und wie die Kirchen zum selbstbestimmten Sterben? Der österreichische Urologe und Universitätsprofessor Gero Hohlbrugger hat sich mit vielen Aspekten des Notstands befasst und in einem dreiteiligen Essay zusammengefasst. Hier ist der dritte Teil.

10) Therapieabbruch

Als meine Mutter, unser Izzele, infolge ihres fortgeschrittenen „Alzheimer“ kaum noch von einer bereits Verstorbenen zu unterscheiden war, hat unser Kleinfamilienrat dem behandelnden Hausarzt nahe gelegt, im Falle einer durch Schluckstörung verursachten Lungenentzündung keine Problem-orientierten Behandlungsschritte einzuleiten. Unglücklicherweise war dieser mein Kollege während ihres ersten in der Regel ein Leben beendenden Ereignisses auf Urlaub. Von seinem an keine Vereinbarung gebundenen Vertreter wurde sofort nach allen Regeln der Kunst und obendrein erfolgreich gegengesteuert. Es dauerte nur Wochen, bis dasselbe Malheur zum zweiten Mal eintrat. Nur diesmal erschien der eigentliche Hausarzt am Krankenbett und hielt sich an die mit dem Angehörigenrat getroffene Vereinbarung. Und siehe da, sie kehrte auch ohne jeglichen medizinischen Beistand zur Bühne der Lebenden zurück. Erst beim dritten Mal trat ein, was von vornherein angenommen werden konnte. Die erwähnenswerte Geschichte wurde erzählt, um auf die Relativität eines Therapieabbruchs oder -entsagens hinzuweisen. Von spontanen Genesungen oder von längerem Überleben nach Abbruch einer Chemotherapie wird allenthalben berichtet. Ob oder inwieweit dabei „alternativmedizinische“ Heilmittel beitragen konnten, entzieht sich meist dem wissenschaftlichen Nachvollzug.
 
Vor geraumer Zeit wurde mir über Vermittlung eines Freundes ein kurzes Volontariat in der damals einzigen anthroposophischen Universitätsklinik in Witten-Herdeke (Nordrhein-Westfalen) eröffnet. Dort fanden sich hauptsächlich an Malignomen (Krebs) leidende Patienten nach Therapieabbruch in konventionellen schulmedizinischen Abteilungen. Bei einigen wurde eine solche Option von vornherein erst gar nicht in Erwägung gezogen. Die meisten wurden mit ansonsten eher belächelten bis beargwöhnten Mistelextrakten und sonstigen Alternativelixieren behandelt. Zudem wurde angelernt, durch Tumorwachstum oder OP verloren gegangene z.B. Lungenfunktion durch Übungen in Eurhythmie zu kompensieren. Prima vista ist mir ein im Vergleich zu konventionellen Krankenhäusern weit weniger hektisches Betriebsklima aufgefallen. Unvergesslich fand ich einen Mann, der mir beim gemeinsamen(!) Mittagessen gegenüber saß. Der strotzte nicht gerade von strahlender Gesundheit, war aber erwiesenermaßen voll von Knochenmetastasen. Entsprechend des Knochenröntgens hätte niemand vermutet, dass einer damit noch aufrecht sitzen konnte. Er verstarb wenige Tage später fast wie ein Infarkt. Er brach sein Leben ohne Siechtum oder sonstiges langes Leiden einfach ab. Das sei angeblich mehrheitlich repräsentativ für ein Ende einer anthroposophischen Krankenkarriere.
 
Ein Exempel aus meiner Zeit als Assistenzarzt an der Urologischen Univ.-Klinik in Innsbruck darf hier nicht unerwähnt bleiben. Wenn Tumorwachstum im Bereich des kleinen Beckens eine Harnabflusssperre oberhalb der Blase verursacht hatte, wurden keinerlei Maßnahmen zur „Umgehung“ auch nur angedacht. Innert weniger Tage glitt die Patient*in in die Bewusstlosigkeit eines Nierenkomas und von dort wenig später in den Tod. Dieser galt als gnädiges Schicksal und wurde von niemandem auch nur ansatzweise angezweifelt. Sämtliche spätere zum Teil auch schmerzhafte Komplikationen des Tumorwachstums hatten sich dadurch erübrigt. Das Installieren einer permanenten Harnableitung aus dem Nierenbecken ist dank moderner Technik eine Risiko-arme Angelegenheit von ca. einer halben Stunde in örtlicher Betäubung geworden. Wahrscheinlich gerade deshalb gilt inzwischen das Vorenthalten der dadurch ermöglichten Lebensverlängerung von bis zu einem Jahr als Kunstfehler mit allen erdenklichen juridischen Implikationen. Cui bono bleibt einem dann doch noch zu fragen.

In extrem seltenen Fällen reicht ein in-sich-Vereinen von Selbstwahrnehmung, Tapferkeit und enormer Willenskraft aus, eine weitere medizinische Behandlung sowie Aufnahme von Nahrung und Flüssigkeit abzuweisen und somit das Recht auf Sterben in Anspruch zu nehmen bzw. zu vollziehen, ohne irgendwelche Zweiten Mitverantwortung aufzubürden. Die psychische Last auf dem Weg zu Mutterseelen alleinigen Selbstvollzug möchte freiwillig wohl niemand nachvollziehen. Im Gegensatz zum Hungerstreik fehlt hier jegliches Verfolgen eines politischen oder gesellschaftlichen Ziels.

Park | © Foto: Gero Hohlbrugger

11) Bestattungskultur: Sarg oder Urne?

Zu Beginn meines Medizinstudiums, an dem zuvorderst das Fach „Anatomie des Menschen“ in Büchern, Vorlesungen und in einem mehrteiligen Sezierkurs an der Leiche ansteht, wagte ich ohne spezielle Erlaubnis, also klammheimlich, weil die Türe gerade offenstand, den Gang in den Keller des Instituts in Innsbruck. Dort schwimmt eine ganze Menge nach eigenhändig testamentarischer Verfügung zum Lehrmittel avancierter Verstorbener in beeindruckend großen mit konservierendem Formalin gefüllten Bottichen. Das Formalin benötigt eine gewisse Wirkfrist, bis auf dem Seziertisch mit der Freilegung von Muskeln, Nerven, Adern und Organen begonnen werden kann. In einem nur zur Mindestsicht beleuchteten Kellergang lehnte ein schlichter schwarzer Holzsarg. Im Gegensatz zu den Bottichen, aus denen makabrerweise sogar die eine und andere Extremität herausragte, traf mich der Anblick des Sarges als ein sich mir bereits tief eingeprägt habendes Symbol des (eigenen) Todes wie ein Schreckgespenst einer Geisterbahn. Um der Gesellschaft den Anblick eines Sargtransports und damit verbundenes Unbehagen bestmöglich zu ersparen, sind als solche auf den ersten Blick erkennbare Lieferwägen nur mehr selten auf unseren Straßen anzutreffen. Nach meinem Dafürhalten hat weniger die Anzahl der Todesfälle, sondern vielmehr die aus Bergamo im Fernsehen vor Augen geführte Unmenge von Holzsärgen die Akzeptanz des ersten Lockdowns zur Abwehr der Covid-Pandemie mächtig beflügelt. Die Vorstellung, bei der Erdbestattung der Verwesung und aasfressendem Getier anheim zu fallen, schürt allgemein Ekel. Um die Kosten für den Sargtischler zu sparen, waren Tuchbestattungen wie heute noch im Islam bis ins 19. Jahrhundert durchaus üblich. Für die Ärmsten der Armen standen Särge mit einer Klappe an deren Boden bereit, die geöffnet wurde, sobald sich der Sarg über dem offenen Grab befand und die erbärmliche Trauergemeinde den Heimweg bereits angetreten hatte. So konnte ein und derselbe Sarg unzählige Male Verwendung finden. Angeblich wurde dergestalt sogar der letztlich bitter verarmte W.A. Mozart nach der Prozession zum Grab auf dem Friedhof Wien St. Marx der stoischen Mutter Erde übergeben. Für diejenigen, die seine Verarmung nicht wahrhaben wollen, wird als Grund der Modalität die Erkrankung an einer Seuche vorgeschoben.

Im Gegensatz zum Sarg symbolisiert eine Urne weit weniger Tod und/oder Todesangst, sondern vielmehr friedvoll eingekehrte Ruhe der Endlichkeit (Abb. 15). Von den bisherigen Teilnahmen an Urnenbestattungen ist mir eine ganz besonders und geradezu erfreulich im Gedächtnis haften geblieben. Sie nahm ihren Ausgang in einer Verabschiedungshalle des Wiener Zentralfriedhofs. Der Verstorbene war Agnostiker und als Anwalt in Wien vornehmlich mit Agenden für Guatemala und Cuba befasst. Da die beiden Staaten über keine frei konvertible Währung verfügen, wurde sein juridischer Beistand mit höchstqualitativen Zigarren und ebensolchem Rum vergütet. Davon hatte sich bereits ein beträchtliches Lager in mehreren Humidoren und Holzkisten angestaut. Die ganze Feierlichkeit ging ohne salbungsvolle Fürbitten mit dazu gehörendem kirchlichen Ritual vonstatten. Dafür mit 4-köpfiger cubanischer Banda, humorig empathischen Ansprachen, fast 1km(!) Prozession zum Grab, wobei die Banda voranging, der mit Blumengestecken und Kränzen behangene Bestattungswagen hinterher, gefolgt von der Trauergemeinde. Auf dem Weg wurden kostbare cubanische Zigarren verteilt und geraucht, der verströmende Duft im Vergleich zu Weihrauch geradezu betörend, vor dem Grab wurde kostbarer guatemaltekischer Rum ausgeschenkt, die Banda verbreitete unaufhörlich Heiterkeit z.B. mit Santanas “Oye como va” oder “Esperanza cha cha cha” z.B. Zum Zeitpunkt des Versenkens der Urne hat sich die allgemeine Stimmung bereits vollends latinisiert, es hätte mich nicht gewundert, wenn vereinzelt bis allgemein um das noch offene Grab das Tanzbein geschwungen worden wäre. Bereichert und besser gelaunt als auf dem Weg dorthin sind alle von dannen gezogen. Seither bin ich umso mehr überzeugt, dass eine solche Veranstaltung mit Urne anstelle von traditioneller Sargbestattung Todesangst sehr wohl zu lindern imstande wäre. Selbstverständlich wünschte auch ich mir einen ähnlich frohgemuten letzten Weg. Früher haben für die Aufmunterung der Trauernden ausschweifende Leichengelage gesorgt.
Die Urne erfreut sich immer größerer Beliebtheit. Angeblich wurde die dreißig-Prozentmarke an Bestattungen bereits überschritten. Sie hat neben ihrer neutralen Form noch den Vorteil, dass auch außerhalb von Friedhöfen beigesetzt werden kann. Kompostierbare Urnen eignen sich besonders für Naturgräber unter Bäumen oder unter dem Gras einer Wiese. Die Rezirkulation der Asche als Nährstoff über die Wurzel in den Baum oder ins Gras symbolisiert den ewigen Kreislauf allen Seins. Neuerdings werden in unserem Land auch Grabplätze auf Almen mit Blick ins Tal angeboten. Die Gräber sind optional mit Gedenkstein markiert aber in jedem Fall amtlich kartographisch festgehalten. Wasserbestattungen während einer Fahrt entlang der Donau zählen längst nicht mehr zu exklusiven Kuriositäten.

12) Todesangst von Kindern und Jugendlichen

Ob und inwieweit sterbenskranke Säuglinge bereits ein Äquivalent oder eine Stellvertretung der Todesangst Erwachsener befällt, ist mit Sicherheit weder ein- noch auszuschließen. Dazu bedarf es bei bedrohten Kindern wohl des Erreichens der Inbesitznahme des Ichs und des Unterscheidenkönnens dieses Ichs vom Du. Erst nach dieser Inbesitznahme wird der drohende Verlust des Lebens zur traurig Angst erregenden Gestalt. Das Ausmaß der Angst dürfte mit Selbstbewusstsein, mit erlerntem Wissen, dem Auseinanderhalten von Gut und Böse, erlebten Erfahrungen, geschlossenen Freundschaften und der Gewissheit des stets offenen Rückgriffs auf ein Zuhause korrelieren. In Sorge und Verantwortung der Eltern finden Kinder die für sie lebensnotwendig schützende Geborgenheit. Angeeigneter oder vorhandener Besitz bestimmt die Fallhöhe der Angst vor Verlust. Dem noch jungfrischen Leben geschuldet, kann sie bei Kindern noch nicht beunruhigend angestiegen sein. Dementsprechend erscheinen Kinder angesichts ihres nahenden Lebensendes oft bewundernswert gelassen bzw. auffallend stabil kontrolliert. Das kann sie sogar ermutigen, in Trauer darniederliegende Eltern aufrichten und Ihnen Halt geben zu wollen. Selbstverständlich bedauern sie, von Partys, Fernreisen, Erfolg, Studium, Beruf, erfüllter Liebe, eigenen Kindern etc. nur mehr träumen zu können. Insgesamt positionieren sich Kinder ins diametrale Gegenüber zu ellbogigen Machertypen. Wenn die ihr „Glück des Tüchtigen“ nicht rechtzeitig relativiert haben, befinden sie sich prämortal auf maximaler Fallhöhe. Deshalb wird oft bis zuletzt vehementest gegen das drohende Abdriften ins Nichts gerungen und protestiert. Anwesende finden solche Dramen in der Regel eher unerträglich, weil entwürdigend. Im Kontext verdichtet sich die biblische Prophezeiung „Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder, werdet ihr nicht ins Himmelreich eingehen“ zu unumstößlich zeitloser Wahrheit.

Was die palliative Betreuung von lebenslimitiert erkrankten Kindern betrifft, unterscheidet sie sich in keiner Weise von der für Erwachsene. Hier muss allerdings das gesamte familiäre Umfeld miteinbezogen werden. Eltern versorgen ihre erkrankten Kinder über einen nicht absehbaren, Wochen bis Jahre dauernden  Zeitraum. Das geschieht oft zulasten von Geschwistern, zulasten der Erhaltung der innerfamiliären Balance. Um solchen Entwicklungen entgegenzuwirken, steht eine Reihe psychotherapeutischer Ansätze zur Auswahl. „Leben bis zuletzt“ gilt insbesondere für die sozialen Kontakte des erkrankten Kindes mit „gesunden“ Alterskolleginnen und Kollegen. Wenn nun Kinder mit anderen erkrankten Kindern gemeinsam spielen, die Schulbank drücken oder im Sammelbus zur Klinik zusammenfinden, werden sie in deren sukzessiven Ausbleiben unweigerlich gewahr, dass irgendwann auch sie mit dem Ausbleiben an der Reihe sein werden. Es dürfte der Verarbeitung jedes einzelnen Verlusts zugute kommen, wenn Kinder über den Grund des Ausbleibens nicht im Unklaren gehalten werden sondern die erschütternde Wahrheit über den Tod als Grund des Ausbleibens erfahren. Neben der umfassenden Kontrolle der Symptome hat sich die der Schmerzen inzwischen einen Spitzenplatz zur Linderung von Todesangst erobert. An sich sollte Eltern schon bei der Geburt klar sein, dass das Schicksal auch Ihnen ein Kind mit lebenslimitierender Erkrankung aufbürden darf.

13) Rechtzeitiges Erstellen u. a. einer Patientenverfügung

Wenn das Ableben von über 90-jährigen via Todesanzeige bekannt gemacht wird, fehlt dort nicht selten der Hinweis, sie/er sei völlig unerwartet gestorben. Als ich hingegen nachvollziehbarer unerwartet zum Handkuss mit Intensivpflegestation und Tiefschlaf angetreten bin, hatte ich gerade den 60. Jahresring erworben. Selbstredend, in einem solch jugendlichen Alter wie für die Majorität meiner Altersgenossen war eine Patientenverfügung für den Fall einer brenzligen Situation bzgl. meines Weiterlebens ein eher kokettes Anliegen. Darin erklärt jemand den Wunsch (für den Fall dass dieser nicht mehr geäußert werden kann), dass bestimmte medizinische Behandlungen, die nichts zur Heilung beitragen, sondern nur Siechtum unnötig verlängern, unterbleiben sollen. In Deutschland ist eine derartige Verfügung für behandelnde Ärzte soweit verbindlich, dass z.B. das Anlegen einer Magensonde zwecks künstlicher Ernährung – sofern vorher eigens angeführt – als schwere Körperverletzung gerichtlich geahndet werden kann. In Österreich wird das nicht ganz so streng gehandhabt. Nach dem Grundsatz „im Zweifel für das Leben“ braucht die ärztliche Verweigerung ein gerichtliches Nachspiel nicht zu fürchten. Meine postoperative Verlegung in ein Gewirr von Kabeln, Schläuchen, Infusionspumpen und Überwachungsapparaturen (Abb. 2) war bestimmt nicht geplant. Deshalb und weil ich bis dahin die Erstellung einer Patientenverfügung nur vor mir herschob, weil Luftröhrenbeatmung Sprechen verunmöglichte und weil ich den Grund meiner misslichen Lage nicht gleich in Erfahrung bringen konnte, geriet ich beim Aufwachen sofort in Panik, denn jetzt war ich ohnmächtig jeglichen medizinischen Entscheidungen ausgeliefert. In dem Setting hatte Todesangst absolut keine Chance. Lieber wollte ich sterben als nach allen Regeln der Kunst am Leben zu bleiben: Ein rundum auf Fremdhilfe angewiesener Pflegefall ohne Kontrolle über meine Ausscheidungen, angeschlossen an Luftröhrenbeatmung, versorgt über eine Magensonde und daher von sämtlichen Gaumenfreuden ferngehalten. Die unfreiwillige Abstinenz von erotischen Höhenflügen fiel letztendlich auf dieselbe Waagschale. Als Konsulent im Fach Urologie im NeuroReha-Zentrum Zihlschlacht (Kanton Thurgau, Schweiz) hatte ich über 25 Jahre lang zumindest einmal pro Woche Gelegenheit, mich in die resignative Ausweglosigkeit von auf diese Weise „behandelten“ Patient*innen hineinzufühlen. Meine damalige unabdingbare Entscheidung für mein Lebensende ermutigt mich zu erwarten, in einer vergleichbaren Situation auch in Zukunft Würde, Ruhe und Gelassenheit eventuellen Loslassängsten aus diesem Leben scheiden zu müssen, entgegen halten zu können. Eine Woche nach Entlassung aus dem Krankenhaus, gerade wieder geh- und geschäftsfähig, ging ich zu einem Kollegen, der mir eine Patientenverfügung ausstellte. Inzwischen wurde sie im 5-Jahresintervall ganz offiziell bekräftigt. Vor ca. vier Jahren fand sich eine Gelegenheit, ihre Effizienz zu überprüfen. Wegen eines von einem Fahrradsturz verursachten subduralen Hämatoms im Bereich der linken Großhirnhälfte wurde ich mit einem Rettungsheli in ein renommiertes Linzer Krankenhaus geflogen. So ein Hämatom drückt auf das Gehirn, verursacht rasende Schmerzen, lässt aber die eigentliche Hirnsubstanz und somit das Bewusstsein unbehelligt. An sich stand eine recht banale OP bevor: Bohrung eines kleinen Lochs durch die Schädeldecke, um das geronnene Blut abzuleiten. Mit der Ursache sind dann die Schmerzen beseitigt. Wegen eines fragwürdigen Blutbefundes wurde die OP trotz der Schmerzen mehrmals verschoben. Während einer Chefvisite mit der üblichen Entourage von nachgeordneten Ärzten habe ich mich bei vollem Bewusstsein(!) erdreistet, meine Patientenverfügung auf’s Tapet zu bringen. Die Reaktion war erstaunlich abwegig: Kopfschüttelndes Was-ist denn-mit-dem? Ist der womöglich depressiv? An sich war klar, dass die Lochbohrung eine von außen nicht sichtbare Ader verletzen hätte können. Das hätte zum Zwecke der Blutstillung zumindest eine weitere sektorale Öffnung der Schädeldecke erfordert. Die Mutmaßung, als Arztpatient besonders anfällig für Komplikationen zu sein, hat sich ja bereits einmal bewahrheitet. Deshalb erlaubte ich mir zu betonen, im Falle eines Unglücks irgendwelche Maßnahmen, die nicht zur ausschließlichen Korrektur der Komplikation, sondern nur zur Verlängerung des Lebens ergriffen würden, kategorisch abzulehnen. Erst nach Einlangen einer gefaxten Kopie meiner Patientenverfügung wurde mein Wunsch akzeptiert und ernst genommen. Man halte sich einmal dasselbe Szenario für einen medizinischen Laien vor Augen: Der an sich überwunden gewähnte ärztliche Paternalismus feiert noch immer fröhliche Urstände. Das bedeutet für die Entscheidungsgrundlage medizinischer Indikation: Das Recht auf Selbst- bzw. Mitbestimmung des Patienten ist als deren relevanter Teil noch immer nicht ausreichend verankert.
 
Der Patientenverfügung nicht unähnlich verhält es sich mit einer Vorsorgevollmacht. Damit kann eine Person das Recht auf Selbstbestimmung wahrnehmen und im Vorhinein festlegen, wer als Bevollmächtigte*r für sie entscheiden und sie vertreten soll. Dies betrifft den Fall eines zukünftigen Verlusts der Geschäftsfähigkeit bzw. der Fähigkeit zu Einsicht, Urteil oder Äußerung. Derartige Situationen können z.B. bei einer Demenzerkrankung oder bei längerer Bewusstlosigkeit entstehen. Eine Vorsorgevollmacht muss bestimmte formale und rechtliche Voraussetzungen erfüllen. Näheres ist unter http://www.kostenlose-vordrucke.de/vorsorgevollmacht aufgelistet. Der Gang zum Notar zwecks Erstellung eines Testaments sowie die reinigende Kraft von Versöhnung bzw. Entstörung von schwelenden Konflikten im näheren Umfeld von Familie und abhanden gekommener Freunde sollten Todesangst um einen weiteren Grad lindern. Will Versöhnung nicht gelingen, haben wir auch damit zurecht zu kommen. In Trost, Gelassenheit und dankbarer Erinnerung an das hinter uns Gebliebene können wir uns geradewegs unserem alter ego, dem Portier zur Endlichkeit anvertrauen; komm Gevatter Tod!

 | © Foto: Bernd Leukert

14) Trauer, Trost und Gedenkkultur

Was die Anteilnahme am Traurigsein von Sterbenden und begleitenden Angehörigen betrifft, halte ich es mit Elisabeth Kübler-Ross. Die/der dritte im Bunde, ob Ärztin oder Arzt, Krankenschwester oder Pfleger, professionell oder ehrenamtlich seelsorgend Beigezogene, sollten sicher sein, ausschließlich herzwärmende Gedankenflut und Handreichung anbieten zu wollen. Jetzt sind wohlmeinende Ratschläge, Metaphern, unwahrer Optimismus oder sonstige Peinlichkeiten tunlichst zu unterlassen. Nur unter Gesundstrahlern darf auf den Tod als Raumgeber für Neues hingewiesen werden. Im ersten Moment der Betroffenheit ist niemand imstande, die Trauer um den erlittenen Verlust mit dem Dank für die wohltuend erfreuliche Erinnerung zu ersetzen. Verstorbene sind auch nicht als materialermüdeter Gebrauchsgegenstand zu verstehen, sondern prinzipiell unersetzlich. Eventuell darf behutsam befriedende Rede im Falle von blanker Wut über das von nun an Alleingelassensein der Dagebliebenen zum Einsatz kommen.
 
Obwohl sich das Ereignis schon Jahre zuvor durch kleinere „Streifer“ angekündigt hatte, traf der letztlich tödliche Schlaganfall meines Vaters meine Mutter, Schwester und mich wie ein Keulenschlag. Trotz seiner Bewusstlosigkeit oder vielleicht gerade deshalb wirkte er unaufgeregt gelassen und absolut schmerzfrei. Den Ausdruck des Eins- bzw. Einverstanden-seins mit dem Lebensende nahm er auf das Gesicht seines Leichnams mit. Zur Einsegnung wünschte er sich den Beginn des 2. Satzes (Adagio) des Streichquintetts C-Dur von Franz Schubert. Den Wunsch haben mit ihm eng befreundete Kammermusiker gerne erfüllt. Spätestens jetzt dürften sämtliche vorsorglich errichteten Barrieren zum Schutz vor Trauerschmerzen ihren Halt verloren haben. Auf Schuberts genialen Tonspuren wandelte er ganz auf sich allein gestellt, aber tapfer aufrecht durch die Wolken, bis ihn niemand mehr sehen konnte.
 
Dem Tod meiner Mutter ging ein einjähriger „Alzheimer“ voran. Bei anderen kann sich der Verlauf der Krankheit bis auf über zehn Jahre ziehen. Sie hingegen absolvierte sämtliche in der einschlägigen Literatur beschriebenen Krankheitsstadien innert eines einzigen, dafür umso schneller. Sie wurde in Innsbruck von einem mehrköpfigen Team rund um die Uhr betreut und gepflegt. Kam ich sie von Bregenz aus besuchen, fragte sie selbst im Hochsommer, ob Schnee am Arlberg lag. Damit tat sie kund, mich erkannt zu haben. Jede darauf basierende Hoffnung, mich jetzt mit ihr unterhalten zu können, unterband sie mit sofortigem Abflug ins Nirvana. Mit ihrem Hausarzt wurde vereinbart, sie im Falle einer Lungenentzündung durch Verschlucken in die „falsche Kehle“ ihrem Schicksal zu überlassen. Als dieses Malheur dann tatsächlich eintrat, nahm sie das absolut unaufgeregt „zur Kenntnis“ und atmete verhältnismäßig ruhig weiter. Wenige Tage später faltete sie die Hände über ihrer Bettdecke und betete laut Ohrenzeugen fehlerfrei ein „Ave Maria“. Für mich war das ein untrügliches und sich letztendlich erfüllendes Zeichen ihrer alsbaldigen Ruhe im Frieden. Wie die Frage nach „Schnee am Arlberg“ war das Gebet ein sanfter Hinweis, daß selbst im Befall von dieser entwürdigenden Krankheit punktuelles Gewahrwerden von sich selbst oder von nahvertrauten Personen erhalten bleiben kann. Der Tod hat das vorher von der Krankheit arg in Mitleidenschaft gezogene Gesicht ins Jungmädchenhafte verzaubert: Ein unerwartet tröstendes Geschenk an uns Kinder.
 
Mir hat der Tod meiner Mutter schmerzlich vor Augen geführt, jetzt sei ich mit ihm an der Reihe! Nachdem sie drei Jahre nach meinem Vater abhanden kam, empfand ich noch etwas ganz besonders bemerkenswert: Mit ihr erlosch ein Herd, der mir allzeit wärmend zur Verfügung stand, auch wenn ich dessen Wärme nur mehr anlässlich eines Besuches beansprucht habe. Diese Stütze für mein Leben ist mir erst durch ihren Verlust ins Bewusstsein getreten. Wenn ich meinen Eltern nachrufe, durchfährt mich ein lindes angenehmstes Lüftchen. Es steht stellvertretend für Verständnis, Versöhnen, Dank, in toto eine postume, umarmende Liebeserklärung. Das war nicht immer so, da gab´s auch Hader, Undank und Vorwurf. Insgesamt haben mir meine Eltern durch ihre beispielhafte Gelassenheit im Sterben ein erhebliches Quantum meiner eigenen Todesangst abgenommen. Wenn wir den Wollfaden zum Knäuel weiterwickeln, dann kann prinzipiell jede und jeder Einzelne Gelassenheit im Sterben auf andere übertragen. Ganz in den Sinn des Talmuds (erklärt Gebote und Verbote der jüdischen Bibel bzw. der Thora) übersetzt: Wer (s)ein Sterben erleichtert, erleichtert das Sterben der ganzen Welt!
 
Fehlt jede begründete Hoffnung auf Erbzugriff, häuft sich leider als später Kollateralschaden egomanischer Lebensführung mit der Vereinsamung auch die Zahl derjenigen, deren Lebensende außer medizinischem Personal, aber ansonsten niemandes anderen Anwesenheit veranlasst. Nicht wenige von denen verhungern und verdursten in trostloser Ruhe einsam und verlassen innerhalb der eigenen vier Wände. Zu trauriger Letzt landen solche Schicksale wie ehedem viele gefallene Krieger, meist irgendwo in Grabfeldern der Namenlosen. An die namentlich bekannten Gefallenen des 1. und 2. Weltkriegs erinnern auch in kleinsten Ortschaften immer noch Denkmäler, die Heroismus, Rachegelüste nebst Opferbereitschaft und Tapferkeit ausstrahlen (Abb. 16). Einem ganz konträr vorbildlich unaufdringliche Bescheidenheit, unvergleichlichen Charme sowie wahre Versöhnungsbereitschaft betonenden Denkmal bin ich zufälligerweise in Au/ Rehmen im Bregenzerwald begegnet (Abb. 17). Zur Lockerung des Umgangs der Hinterbliebenen mit Sterben und Tod hat der renommierte Architekt Gion A. Caminada für das Graubündner (CH) Bergdorf Vrin eine „Totenstube“ konzipiert. Lt. Quellentext der Regiun Surselva grenzt sie an Friedhof und Pfarrkirche und ist mehr als nur Stube: Bei Kaffee und Kuchen kann über den Tod geredet, aber über die eine oder andere Anekdote aus dem Leben des gerade Verstorbenen auch gelacht werden. Eine kleine Treppe führt in den unteren Stock, wo sich der auch von der Strasse her zugängliche Aufbahrungsraum befindet. Das Projekt stieß bei der Dorfbevölkerung nicht gleich auf Begeisterung. Inzwischen ist es angenommen und relevanter Teil Der Dorfkultur geworden.
 

15) Von der Persönlichkeit zur Diagnosenkaskade

Seit das Sterben von der heimeligen Stube, in der sich jede Dorfbewohnerin und jeder Dorfbewohner höchstpersönlich verabschieden konnte, in der Hauptsache in die abgeschirmte Sterilität eines Krankenhauses oder Altenheimes weitergereicht wurde, ist damit für die meisten Angehörigen oder Freunde ein ganzes Stück sterbensnahes Beobachten, Erfahrung Sammeln, oder Auf-die-Reihe-Kriegen des letzten Weges verloren gegangen. Der Allgemeinplatz „jede und jeder stirbt seinen eigenen Tod“ hat deshalb nichts an Gültigkeit eingebüßt. Nur das allgemeine Interesse an seiner immer wieder zu ergänzenden Bestätigung hat in unserer Gesellschaft spürbar nachgelassen. Der Tod meines Lieblingsonkels hat mir diese Fehlentwicklung erstmalig und gleich besonders deutlich zu erkennen gegeben. Als Altphilologe schwärmerisch reinsten Wassers dürfte er das Ideal zur Minimierung der Todesangst des Stoikers Epiktet (Rubrik Nr. 5) verinnerlicht haben. Wann und wo immer ich ihn traf, sprach er vom merklich näher kommenden Tod in einer abgeklärten Selbstverständlichkeit, die ihresgleichen nur schwerlich findet. Über sein Ableben hat mich eine nahe Verwandte informiert. Um sich seelisch von diesem Ereignis fernzuhalten, schilderte sie den Bogen einer Diagnosenkaskade, die erst in einem nicht mehr aufzuhaltenden Multiorganversagen ihrem terminalen Höhepunkt zusteuerte. Im ersten Moment war ich fassungslos, kein „Sterbenswörtchen“ über Todesangst, Verzweiflung, klammerndes Dableibenwollen, Abscheu, Alleinsein, Hoffnung auf ein Jenseits, Wünsche, Grußbotschaften, Loslassen, Verabschieden, Versöhnen etc. in Erfahrung gebracht zu haben. Hat jemand ein stattliches Alter erreicht, mutiert alleiniges Auflisten von Diagnosekaskaden zu drittrangig sinnlosem Geschwurbel. Wollen wir in der Tat zu einem oder mehreren Plots der epidemiologischen „Buchführung“ verkümmern? Mein Interesse galt ausschließlich der Frage, ob und inwieweit er seine bewundernswert abgeklärte Selbstverständlichkeit dem Tod gegenüber bis zum letzten Atemzug durchhielt. Sie ist bis heute unbeantwortet geblieben. Das Ausblenden persönlicher Attitüden zugunsten von Diagnosekaskaden hat inzwischen unsere Gesellschaft nahezu komplett erfasst. Dass die Mode nur vordergründig Todesangst der Dagebliebenen lindert, liegt auf der Hand.

16) Pflegenotstand

Von 1914 bis 1918 verbreitetes Plakat zur Rekrutierung von Pflegepersonal und Unterstützung des Roten Kreuzes  | © Foto: Wikipedia

Der modernen Medizin verdanken wir nicht nur, aber doch größtenteils, eine noch nie dagewesene Lebenserwartung implizit der demographischen Fehlentwicklung, aber als deren weniger erfreuliche Folgeerscheinung auch den Pflegenotstand. Schonungslos brutal zeigt uns die Corona-Pandemie die personellen, baulichen und apparativen Kapazitätsgrenzen unseres Gesundheitswesens. Allerdings nimmt dieser Umstand nur vorweg, was eher früher als später angesichts der immer mehr Ressourcen beanspruchenden modernen Medizin ohnehin eingetreten wäre. In Analogie zum „Peak Oil“ (Zeitpunkt, ab dem sich die Ölförderung trotz vermehrten Bedarfs nicht mehr steigern lässt) haben wir inzwischen den „Peak Nursing“ überschritten. Der markiert den Zeitpunkt, ab dem einem steigendem Pflegebedarf kein vermehrtes Rekrutieren von Pflegekräften mehr folgen kann. Mit steigender Tendenz dürfte in naher Zukunft ein noch nie dagewesener Schwung an Pflegebedürftigen anfallen. Schon heute landete die Alten- und Krankenpflege ohne die unzähligen Helferinnen und Helfer aus dem nahen und ferneren Ausland komplett im Chaos. Angeblich bestreiten die einen Anteil von 90%, fehlen in ihrer Heimat als Mütter, Pflegende oder Arbeitskräfte. Das will hierzulande niemand wahrhaben. Die sollen doch froh sein, daß wir ihnen ermöglichen, ihre ansonsten kärgliche Kaufkraft für sich und ihre Familien aufzupäppeln. Und das mit Mindestlohn, oft ohne Sozial- oder Krankenversicherung. Nicht auszudenken, sollten die eines Tages nicht mehr anreisen dürfen. Laut seriösen Berechnungen fehlen in wenigen Jahren allein in Österreich 17.000 Pflegekräfte. In der Schweiz fehlen heute schon 12.000. Wer angesichts dieser enormen Zahlen als Ersatz die Dienste von lieb- und seelenlosen Pflegerobotern in Aussicht stellt, der dürfte damit seinen letzten Funken Humanität von sich gewiesen haben. Es hat den Anschein, als würde das ausnahmslos jeden einmal betreffende Horrorszenario noch immer nicht ausreichen, einen Ruck durch die gesamte Gesellschaft zu veranlassen hin zu einem klaren Ja zu Therapieabbruch und wie immer gearteter „Sterbehilfe“. Also Augen zu und weiter wurschteln wie gehabt?
 
Die Verzweiflung über auf Fremdhilfe angewiesenes jahrelanges Krankenlager betrifft nicht nur die Pflegefälle, sondern immer mehr die Pflegenden. Der kürzlich und bereits vor(!) der Covidpandemie ausgerufene Pflegenotstand als Omen für noch Schlimmeres bedeutet zumindest für Liegendkranke bei Verzicht auf Verharmlosung nichts anderes als stunden- oder tagelanges Verweilen in den eigenen Exkrementen. Unter solchen Umständen wird zweitrangig, ob gefüttert und getränkt oder zum Darüberstülpen sogar das zeitweise vorenthalten wird. Dazu kommen dann noch die soziale Vereinsamung sowie medikamentöse Ruhigstellung, also insgesamt das blanke inakzeptable, weil unzumutbare Elend. Gewalt gegen ältere, pflegebedürftige Menschen ist weit verbreitet. Entweder sind der Not gehorchend unzulänglich ausgebildete Helfer am Werk oder solche, die sich mangels Frustrationspotential, Geduld und Empathie von vorne herein für diesen Beruf gar nicht eignen. Für die augenzwinkernde und schulterzuckende Akzeptanz der Missstände erscheinen private Profit(!)-orientierte Organisationen der Altenfürsorge besonders anfällig. In der Regel schaut man da erst gar nicht hin, sondern wendet sich ab mit Grausen. Nicht vorzustellen, was die immer öfter ventilierte Zuhilfenahme von militärischen Präsenzdienern erst anrichten dürfte. In der Schweiz hat man auf die sich immer weiter öffnende Schere zwischen Pflegefällen und Pflegenden schon längst reagiert und das Erstellen eines Maßnahmenkatalogs mit Stufeneinteilung in die Wege geleitet. Bis heute fristet dieser sein Dasein in einer „Schublade“. Mumm, die Bevölkerung schon jetzt mit diesen Maßnahmen zu konfrontieren, fehlt dort noch immer. Es geht aber nicht allein um die Bevölkerung sondern in erster Linie um Gesetzgeber und Ärzteschaft. Zur Findung eines tragfähigen Konsens haben Wortmeldungen von Philosophen noch nie geschadet. In Nibelungentreue zum Tötungstabu, die jeden Ruch des Tötens miteinschließt, dürften christliche Theologen der fundamentalistischeren Sorte zu dieser Krise ohne absehbares Ende keine brauchbare Stellungnahme liefern. Da es sich um einen wirksamen Antrieb des Geschäfts handelt, ist eher unwahrscheinlich, dass die Ärzteschaft das unaufhörliche Posaunen ihrer Erfolge im Kampf gegen Krankheit und Tod leiser stellen wird. Die sind in der Tat beeindruckend sensationell, einfach bewundernswert. Der letzter Schrei ist aber absolut kein Zaubermittel gegen den Pflegenotstand: mRNA-Impfstoffe markieren eine in ihren Auswirkungen noch nicht absehbare technische Revolution zur altersunabhängigen „Rettung“ von Millionen Menschenleben. Es wirkt in Anbetracht der zuletzt aus Erschöpfung eingeschlagenen Flucht aus dem Pflegeberuf schwierig, hilflos bis tragisch, auf den Pflegenotstand in Spitälern, Pflegeheimen oder in der Hauskrankenpflege nur mit dem Angebot von mehr Pflegeausbildung und längst fälliger, wiederholt versprochener besserer Entlohnung zu antworten. Auf eine Medienkampagne zur Anhebung des Sozialprestiges weg von „dienenden“ Serviceleistern hin zu verantwortlichen Entscheidungsträgern wartet man bislang vergeblich. Angeblich quittieren bis zu 40% der frisch Ausgebildeten nach kurzer Zeit Ihren Job. Dadurch alleine wächst das Arbeitspensum auf die an der Front weiterkämpfenden kontinuierlich bis zur Belastungsgrenze. Ein Musterbeispiel für einen fatalen Kreislauf. Sowohl in Pflegeheimen als auch in Kliniken mehren sich infolge Pflegepersonalmangels geschlossen gehaltene Stationen. Irgendwann wird man wohl auch von ärztlicher Seite die Drosselung der steten Zunahme an Pflegefällen ohne Wenn und Aber und ohne die kontextuell bisher üblichen Verrenkungen in Angriff zu nehmen haben. Vor nicht allzu langer Zeit dauerte eine terminale Pflegebedürftigkeit ca. ein Jahr. Inzwischen wurde diese Spanne durch medizinische Interventionen auf bis zu 10 Jahre verlängert. Die enorm gestiegene und weiter steigende Anzahl an Demenzerkrankungen dürfte auch damit zusammenhängen. Momentan drehen sich Schuld, Recht, Kompetenz, Entscheidung und Verantwortung der sozialen Langzeitfolgen von Therapierestriktion (Triage), Therapieabbruch oder „Sterbehilfe“ in Endlosschleifen. Im Zuge der oft heftigen Diskussionen um Pro oder Kontra ist nur selten von Liebe, Würde, Erbarmen, Mitleid, nicht-mehr-zuschauen- oder nicht-wirklich-helfen-Können die Rede. Würden wir die Todesangst von ihrem Platz als Angelpunkt sämtlicher Entscheidungen am Lebensende herunterholen, wäre ein wesentlicher Schritt aus dem Pflegenotstand getan. Stattdessen verharren wir bezüglich der Gestaltung der letzten Daseinsphase in verzagt planloser Starre bis Pflegemangel-bedingte Vernachlässigung unerträgliche Unwürden nach sich ziehen wird. Das wiederum liesse Todesangst sogar von der Todessehnsucht umarmen. Unter solchen Umständen verlören die derweil in Endlosschleifen befindlichen Optionen ihre ansonsten bedrohliche Gestalt. Bei absehbaren Entwicklungen kann Vor-sich-Herschieben einer längst fälligen Neuorientierung der medizinischen Indikationslage am Lebensende inklusive der Sterbehilfe die jetzt schon bedrohliche Lage nur verschlimmern. Die unselige Interpendenz von aus Angst vor dem Lebensende geleitetem Tabuisieren des Sterbens von Gesell- und Ärzteschaft, Inanspruchnahme des Leistungsangebots der modernen Medizin bis zuletzt, ebenda noch zusätzliche Angst vor juridischer Verfolgung im Falle dessen Vorenthaltung, daraus resultierende Überalterung und Pflegenotstand als Sackgasse muss grundsätzlich diskutiert und gewichtet werden. Es wäre hoch an der Zeit, das auf unsere Gesellschaft zukommende Chaos während der letzten Lebensphase ohne Schönfärberei anzusprechen. Ein rechtzeitiger Gesinnungswandel hinsichtlich der Entscheidungen am Lebensende sollte das abwenden. Medizinerkollegen, Pflegedienste, Sterbebegleiter etc. aber auch mit dem Sujet befasste Juristen und politische Entscheidungsträger sind gefordert, die Gesellschaft von der Conditio Sine Qua Non dieses Gesinnungswandels zu überzeugen, um Sie zu gewinnen ihn mitzutragen. Es wurde lange genug versucht, den Tod nur aufzuhalten. Es sollen keineswegs die Leistungen der Medizin und eine glückstrahlende Inanspruchnahme des Altenteils infrage gestellt sein. Es gilt ausschließlich Sinne und Sensibilität für die Verhältnismäßigkeit des Mitteleinsatzes am Lebensende zu schärfen.

Baseler Totentanz  | © Foto: Wikimedia commons

17) Todessehnsucht

Der Vollständigkeit halber muss als Gegengewicht zur Todesangst der sogenannte Todestrieb zur Sprache kommen. Laut Franz Schuh handelt es sich dabei um ein Umkippen von einer Müdigkeit noch immer Am-Leben-Zu-Sein in einen aktiv betriebenen Wunsch. Es bedarf nicht unbedingt des Schmerzes, der Krankheit, um genug zu haben; die Erschöpfung kann auch daher kommen, dass man plötzlich erkennt (oder zu erkennen glaubt), wie all die Mühen und die Anstrengungen, diese tagein, tagaus überspannte Willenskraft und die öde Wiederkehr der Entspannungen, sich nicht lohnen. Dass eine erfüllte, relativ erfolgreiche und gesunde Biographie die Abzweigung in einen Todestrieb einschlägt, ist schwer vorstellbar. Ob und inwieweit Psychopharmaka und Gesprächstherapie zur Umkehr von einem solchen bereits dorthin eingeschlagenen Weg veranlassen, wage ich mangels an Erfahrung nicht mit letzter Bestimmtheit zu behaupten. Wie dem auch sei, laut übereinstimmender Erfahrungen meiner Schweizer Kollegen, handelt es sich bei psychogener Todessehnsucht meist um ein Therapie-refraktäres Kontinuum zunehmender Intensität. Der Sinn des Lebens wurde zwar verzweifelt gesucht, aber nie wirklich gefunden. Stellt sich nach 1-2 Jahren begleitender Beobachtung heraus, dass sämtliche Alternativen zur Befreiung von dieser Lebenslast erfolglos waren, wird hier assistierter Suizid, wenn flehentlich erbeten, auch vollzogen. Ist das im ländlichen Lebensraum der Fall, erfahren davon alle anderen Dorfbewohner, ohne dass sich der betreffende Arzt um seine weitere soziale Integration sorgen muss. In Österreich stoßen bislang selbst herzinniglichst und unablässig darum Bittende nicht wirklich auf Verständnis. Obwohl damit gewalttätiger Suizid mit Sturzflug, Pistole, auf Eisenbahnschienen oder sonstige Grausamkeiten für die zur Identifizierung aufgeforderten Hinterbliebenen minimiert werden dürfte.
 
Der somatogene Todestrieb im Zuge einer tödlich endenden Erkrankung hingegen wird sehr wohl geäussert, aber dessen Vollzug meist urplötzlich mit Schrecken abgewiesen. Inwieweit das auf dem mit Höllenpein sanktionierten christlichen Tötungstabu, auf zwischenzeitlicher Hoffnung auf Genesung, auf Todesangst oder auf allen dreien beruht, ist unklar. Zumindest früher wurde ein qualvoller Weg am Lebensende als Gott-gewollte Prüfung interpretiert, mit deren Bestehen man ein sicheres Ticket zur Aufnahme in den Himmel erwerben konnte. Eine leitende Pflegerin der AIDS-Ambulanz in Innsbruck hat mir versichert, dass die vor allen Dingen jüngeren Betroffenen beim morgendlichen Blick in den Spiegel geloben: Wenn’s soweit wäre, würden sie dem Leben ein Ende setzen. Das aber auch dann noch, wenn der Tod bereits am Nachmittag eintrat. Aufgrund der wiederholt auch selbst in Erfahrung gebrachten Kontradiktion von Todeswunsch und von Todesangst getriebenen Überlebenswillen von ein und derselben Person wird wahrscheinlich, dass aus Krankheitsgründen die Fähigkeit schwindet, das todbringende Mittel selbst einzunehmen.

18) Verstärker von Todesangst

Moderne Massenmedien projizieren Sterben und Tod populärkulturell tagtäglich allgegenwärtig bis vors Wohnzimmersofa. Dergestalt zum Sujet der Unterhaltung degradiert, soll vor allen Dingen Langeweile vertrieben werden. Auf dieselbe Art dringen auch die marktschreierischen Verheißungen des „medizin-ökonomischen-industriellen Komplexes“ von der ewigen Jugend durch diverse Nahrungsergänzungen oder durch Schönheitschirurgie z.B. unmerklich perfide selbst an Augen und Ohren, die das primär nicht unbedingt sehen oder hören wollten. Diese Gemengelage fördert die Furcht-nehmende Tabuisierung des Älterwerdens bzw. des persönlichen Lebensendes oder desjenigen von Angehörigen und Freunden. Der spezifischen Flut sind selbstverständlich auch Kinder und Jugendliche ausgesetzt. Zusätzlich verharmlost deren Ästhetisierung die offensichtliche Verherrlichung von Gewalt zum jugendfrei konsumierbaren Unterfutter des Grusels. Andererseits wird hautnahes Miterleben des Sterbens inklusive Anblick und Geruch des Todes von der Jugend so gut wie möglich ferngehalten. Dies führt zu Verlust realen In-Erfahrung-Bringens von Sterben und Tod. Sich darauf beziehende diskursive Kommunikation wird in Gegenwart von Jugendlichen tunlichst vermieden. Treten die beiden dann tatsächlich in die Parade, muss nicht verwundern, dass dies nicht nur bei Jugendlichen panikartiges Ergriffensein, ziellose Flucht, unaufhörliches Heulen und Wehklagen, psychosomatische Affektion, Bedarf an psychotherapeutischer Krisenintervention: summa summarum eine nur schwer beherrschbare Not.

Siehe auch:
 
 
Medizin in Not, Teil II

Medizin in Not, Teil I

Letzte Änderung: 04.12.2023  |  Erstellt am: 04.12.2023

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