Land der Dichter und Denker?

Land der Dichter und Denker?

Fontanes Afghanistan ist Gegenwart
Zwischen 1839 und 1842 besetzten die Briten Kabul. | © National Army Museum, London

Wofür – über den Besitz eines deutschen Passes hinaus – halten sich die Deutschen? Sind es, wie Ludwig Börne schrieb, unsere Fehler, die uns zu Deutschen machen? Oder sind es gar die Dichter? Tatenarm und gedankenvoll? Matthias Buth geht dem Zusammenhang von ungewissem Selbstverständnis, Recht und Politik nach.

Manchmal schimmert die alte Formel noch durch den Sprachnebel. Sie ist ja auch zu schön, eine Alliteration und eine Selbstzuschreibung, die Grazie, Geist und ein sanftes Schweben über den Dingen verheißt.
Wer wäre es nicht gerne, wer würde nicht aus vollem Herzen dazugehören wollen – zum Volk der Dichter und Denker? Der Ursprung des Zwillingswortes ist nicht ganz eindeutig zu ermitteln, ihm liegt aber wohl romantisches Empfinden zugrunde. „Was wäre das enthusiastischste Volk unserer Denker, Dichter, Seher ohne die glücklichen Einflüsse der Fantasie?“ fragte Johann Karl August Musäus (geb. 1735 in Jena und gest. 1787 in Weimar), der als aufklärerischer Autor und Philologe in fünf Bänden „Volksmärchen der Deutschen“ sammelte, ein Buch, das Christoph Martin Wieland nach seinem Tod neu herausgab. Herder schätzte ihn sehr und hielt seine Totenrede.
Der von Heinrich Heine wenig geschätzte Literaturhistoriker Wolfgang Menzel ging im 19. Jahrhundert diesem Begriff nochmals nach und schrieb 1828 in seinem Buch „Über deutsche Literatur“: „Die Deutschen thun nicht viel, aber sie schreiben umso mehr. Wenn dereinst ein Bürger der kommenden Jahrhunderte auf den gegenwärtigen Zeitpunkt der deutschen Geschichte zurückblickt, so werden ihm mehr Bücher als Menschen vorkommen. (…) Das sinnige deutsche Volk liebt es zu denken und zu dichten, und zum Schreiben hat es immer Zeit.“ Madame de Staël liebte Deutschland und die Gelehrsamkeit ihrer Nachbarn (die deutschen Schriftsteller beschäftigten sich mit Theorien, literarischen und philosophische Untersuchungen, vor denen sich die Mächtigen der Welt aber nichts zu fürchten hätten), von ihr stammt die Formel aber nicht. Thomas Mann trieb es 1945 in „Adel des Geistes“ und mit Rückblick auf das 19. Jahrhundert auf die Spitze: „Ein deutscher Dichter: das war etwas dazumal in der Welt. Das Wort vom Volk der Dichter und Denker stand in seiner vollen Geltung. (…) Ein Deutscher sein, das hieß beinahe ein Dichter sein. Aber noch mehr: Ein Dichter sein, das hieß beinahe schon, ein Deutscher sein.“ Puh, möchte man heute sagen. Und klar: Friedrich Dürrenmatt wies das zurück, stanzte aber zugleich die alte Formel, indem er 1956 feststellte: „An die Schweitzer und die Deutschen: Wir sind schon längst kein Volk der Hirten mehr, so wenig wie Sie ein Volk der Dichter und Denker.“
Auf diese Abstraktionsebene begeben sich Politiker nicht. Auch nicht Bundeskanzler Scholz, als er am 25. Januar 2023 im Deutschen Bundestag gefragt wurde, was denn das deutsche Volk außerhalb des staatsbürgerlichen Status ausmache. Herr Scholz verwies darauf, dass in Deutschland gemeinsame Überzeugungen gewachsen seien, dass die Menschen in einer offenen und demokratischen Gesellschaft lebten, Unterschiede akzeptierten, aber nicht vor Recht und Gesetz, dass die Menschen hier pünktlich und fleißig seien und sich gern an die Gesetze hielten. Das war’s.

Staatsvolk und Nation sind jedoch begrifflich nicht identisch, und so ist es schon erstaunlich, dass der Kanzler sich nicht beraten lässt, was er zu solch banalen, dennoch immer wieder in den Feuilletons ausgebreiteten Fragen sagen sollte. Und dass in einem Bundesgesetz, im Gesetz zum Deutschen Auslandsrundfunk – der Deutschen Welle – seit 2005 steht, dass der Sender sich um das Bild Deutschlands in der Welt als „europäisch gewachsene Kulturnation und freiheitlich demokratischen Rechtsstaat“ einsetzen soll, ist doch eine Formel, die an jene von Deutschland der Dichter und Denker heranreicht. Im einstimmig beschlossenen Bundesgesetz wurde in der gesetzlichen Begründung gar auf vier bedeutende Dichter Bezug genommen mit dem Satz, dass Deutschland auch Ausdruck eines Freiheits- und Humanitätsideals sei, das sich in den Werken von Schiller, Goethe, Herder und Heine dokumentiere.

Ist das alles alter Schnee? Joschka Fischer bekannte sich als damaliger Außenminister noch klar zu Deutschland als Kulturnation. Claudia Roth, die als Kulturstaatsministerin des Kanzlers an den Kabinettssitzungen ohne Stimmrecht teilnehmen darf, postulierte noch 1991 „Nie wieder Deutschland“ und will nun aus dem Namen „Stiftung Preußischer Kulturbesitz“ das Preußenwort ebenso streichen wie die Verantwortlichen in Potsdam, wo das „Haus der Brandenburgisch-Preußischen Geschichte“ ebenfalls den P-Namen verlieren soll. Der bekannte Historiker Julius H. Schoeps, Gründer des Moses-Mendelssohn-Zentrums, An-Institut der Universität Potsdam, protestierte vehement. Und der 1938 in Königsberg geboren Doyen der deutschen Geschichtswissenschaft, Heinrich-August Winkler, hat sich in den Großforschungen wie „Geschichte des Westens“ (2015) und „Nationalstaat wider Willen“ (2022) umfassend zur Genese Deutschlands geäußert und eben nicht an Carl Schmitt, sondern an Helmut Plessner angeschlossen. Und wer kennt nicht das Böckenförde-Diktum, wonach der freiheitliche säkulare Staat von Voraussetzungen lebe, die er selbst nicht garantieren könne? Der Staat – so präzisierte er – könne einerseits nur dann bestehen, wenn sich die Freiheit, die er seinen Bürgern gewährt, von innen her, aus der moralischen Substanz des einzelnen und der Homogenität der Gesellschaft, reguliert und andererseits könne er die Regulierungskräfte nicht mit Rechtszwang garantieren, ohne seinen Freiheitsanspruch zu gefährden. Es komme also auf die ethische Kraft aus verschiedenen Quellen an, aus Christentum, Aufklärung und Humanismus, um diesem Dilemma zu begegnen, mithin mit Wertschöpfungen, die sich rechtlich nicht voll erfassen lassen.

Und diese wandeln sich, liegen aber in jenem Begriff, dem man nicht den Verschwörungs-Geisterfahrern von links und rechts (sie begegnen sich häufig) überlassen darf – dem Volk, der Nation, nur formal erfasst durch die Idee des Staatsvolks. Das alles scheint an den Politikern in den Amtsstuben Berlins vorbeizogen zu sein, ohne Abdruck in Gedächtnis und Empfindung gefunden zu haben. Die Worthülse „gesellschaftlicher Zusammenhalt“ weicht all dem aus, was Winkler, Böckenförde sowie auch Herfried Münkler und Karl Schlögel in analogen wie digitalen Medien schreiben. Es geht um mehr als Soziologie, es geht um unser Selbstverständnis als Deutsche, als Staats- und Kulturbürger in einem Land von 150 Ethnien. Alle haben irgendeinen Migrationshintergrund, weshalb man diesen Begriff streichen kann. Selbst Friedrich Merz hat das eingesehen.

Mit Blick auf das Grauen des nationalsozialistischen Staates, auf das Terror-Deutschland, das weiterhin auf uns alle Schlagschatten wirft und das Handeln der Regierungen bestimmt, halten wir uns immer wieder am Begriff des Rechtsstaates fest im festen Glauben, er werde es richten, uns und andere vor Chaos und Willkür schützen. Was ist, wenn wir enttäuscht werden, wenn wir uns täuschen lassen und bewusst nicht zu genau hinschauen, hinschauen wollen?
Blicken wir auf Afghanistan, und nicht nur auf das letzte Jahr, als die Bundeswehr sich davon machte, davonmachen musste, als die US-Amerikaner wie vorher die Sowjets das Land am Hindukusch fluchtartig verließen. Das Gebirgsland in Asien war schon im 19. Jahrhundert im Focus der Großmächte.
Und wer hat darüber berichtet, es in eine Ballade gefasst und so in unser literarisches Gedächtnis gelegt? Er war Brandenburger, Preuße, ein Dichter und Denker, der 1857 als Auslandskorrespondent für deutsche Zeitungen in London tätig war: Theodor Fontane (1819-1898), der Meisterfeuilletonist in seinen Wanderungen durch die Mark Brandenburg, der herrliche Romancier und Balladendichter im 19. Jahrhundert, das Thomas Mann so hochjazzte und viele heute noch als das deutsche Jahrhundert in Europa ansehen. Fontane stützt sich in der Ballade „Das Trauerspiel von Afghanistan“ auf das 1848 in Leipzig erschienene Buch von Karl-Friedrich Neumann gleichen Titels, das schildert, wie sich die Großmacht-Interessen des Britischen Empire mit jenen des zaristischen Russlands kreuzten, ein Machtspiel auf dem Schachbrett der Politik, auf dem die Afghanen hin- und hergeworfen wurden. Aber sie wehrten sich. Und das unheimliche Felsenland half ihnen. 1842 markiert schauerlich das machtpolitische Ringen der Briten um Zentralasien. Das „Great game“, die Niederlage, das Gemetzel vor Dschalalabad, welche das afghanische Heer unter dem Kommando von Wazir Mohammed Akbar Khan (1816-1846) den Invasoren des Empires zufügten, war ein Fanal. Freies Geleit war von afghanischer Seite zugesichert; dieses Wort wurde gebrochen. Im britischen National-Gedächtnis ist dieses Verbluten und Erfrieren von etwa 15.000 Menschen (d.h. 12.000 Zivilisten, 690 britische und 2.840 indische Soldaten) auch heute noch gegenwärtig, ebenso die Formel „Gott schütze uns vor der Rache der Afghanen“.
 
 
Und das veröffentlichte 1860 der deutsche Dichter aus Brandenburg:
 
 
Der Schnee leis stäubend vom Himmel fällt,
Ein Reiter vor Dschellalabad hält,
„Wer da!“ – „Ein britischer Reitersmann,
Bringe Botschaft aus Afghanistan.“

Afghanistan! Er sprach so matt;
Es umdrängt den Reiter die halbe Stadt,
Sir Robert Sale, der Kommandant,
Hebt ihn vom Rosse mit eigener Hand.

Sie führen ins steinerne Wachthaus ihn,
Sie setzen ihn nieder an den Kamin,
Wie wärmt ihn das Feuer, wie labt ihn das Licht,
Er atmet hoch auf und dankt und spricht:

„Wir waren dreizehntausend Mann,
Von Kabul unser Zug begann,
Soldaten, Führer, Weib und Kind,
Erstarrt, erschlagen, verraten sind.

Zersprengt ist unser ganzes Heer,
Was lebt, irrt draußen in Nacht umher,
Mir hat ein Gott die Rettung gegönnt,
Seht zu, ob den Rest ihr retten könnt.“

Sir Robert stieg auf den Festungswall,
Offiziere, Soldaten folgten ihm all’,
Sir Robert sprach: „Der Schnee fällt dicht,
Die uns suchen, sie können uns finden nicht.

Sie irren wie Blinde und sind uns so nah,
So laß sie’s hören, daß wir da,
Stimmt an ein Lied von Heimat und Haus,
Trompeter blast in die Nacht hinaus!“

Da huben sie an und sie wurden’s nicht müd’,
Durch die Nacht hin klang es Lied und Lied,
Erst englische Lieder mit fröhlichem Klang,
Dann Hochlandslieder wie Klagegesang.

Sie bliesen die Nacht und über den Tag,
Laut, wie nur die Liebe rufen mag,
Sie bliesen – es kam die zweite Nacht,
Umsonst, daß ihr ruft, umsonst, daß ihr wacht.

Die hören sollen, sie hören nicht mehr,
Vernichtet ist das ganze Heer,
Mit dreizehntausend der Zug begann,
Einer kam heim aus Afghanistan.

Dieser Eine war der britische Militärarzt Dr. Brydon; er erreichte am 13. Januar 1842 Dschalalabad, wo ein britisches Fort Schutz versprach.
 
 
Hals über Kopf wollten die Briten Afghanistan verlassen. Auch die sowjetischen Truppen zogen sich 1989 nach zehn Jahren ergebnisloser Eroberungsversuche zurück. Und dann 2021 nach zwanzig Jahren die US-Amerikaner, deren NATO-Verbündeten und weitere Invasoren. Die Bundeswehr beklagte 59 Soldaten in einem Krieg, den als solchen zu bezeichnen, lange ein politisches und mithin sprachliches Tabu war. Der pomadige Verteidigungsminister Karl-Theodor Buhl-Freiherr von und zu Guttenberg (das ist sein personenrechtlich korrekter Name) galt geradezu als mutig, als er am 4. April 2010 von „Krieg“ und von „Gefallenen“ sprach, die ihr Leben am Hindukusch ließen. Das muss umso mehr erstaunen, als die Militäraktion unter Leitung der USA unter dem Namen „Enduring Freedom“ vom 7. Oktober 2001 bis zum 28. Dezember 2014 als „Krieg gegen den Terrorismus“ ausgerufen war, eben als Krieg, der sich aber als Militäroperation einen vernebelnden Namen gab.
Kaum einer fragt heute, warum, mit welcher völkerrechtlichen Legitimation auch die Bundesrepublik Deutschland nach Afghanistan einrückte. Das ist erstaunlich, denn wir verstehen uns doch als Rechtsstaat, der aus den Verheerungen des Zweiten Weltkrieges, der aus den Invasionen Deutschlands durch seine Wehrmacht entgegen aller völkerrechtlichen Prinzipen das Grundgesetz von 1949 geschaffen hat, um endlich und ausschließlich Recht und Gesetz zu folgen und nicht Herrschaftsansprüchen über andere Staaten.

Und wie war die Rechtslage nach dem 11. September 2001, als das US-amerikanische Freiheitssymbol – die Twin Towers – mit gekaperten Flugzeugen zum Einsturz gebracht wurden und fast 3.000 Menschen ihr Leben verloren und zudem das Pentagon-Gebäude mit einem Flugzeug angegriffen wurde? All dies ging von Tätern aus, die in Hamburg beheimatet waren.
Die USA sahen sich ins Mark getroffen, sie kamen nicht entfernt darauf, ein eigenes Versagen der Behörden zur inneren Sicherheit zu erörtern, sondern erklärten dem internationalen Terrorismus den Krieg. Sie riefen den UN-Sicherheitsrat an, der durch einen Beschluss die völkerrechtliche Legitimation hätte geben sollen. Mit der Resolution 1368 des Sicherheitsrates am 12. September 2001 wurden die Terroranschläge als Bedrohung für den internationalen Frieden und die internationale Sicherheit verurteilt und das Recht zur individuellen und kollektiven Selbstverteidigung zum Ausdruck gebracht.
Was war denn „Nine eleven“, ein terroristischer Akt oder eine Kriegshandlung und von wem?
Das Recht auf Selbstverteidigung, das jedem Staat völkerrechtlich zusteht, wird in Artikel 51 der Uno-Charta normiert. US-Präsident George Bush nannte die Anschläge in einer Presseerklärung „terroristische Akte“. Das sind Handlungen nichtstaatlicher Akteure, die Gewalt gegen zivile Objekte oder Zivilpersonen ausüben, um Angst auszulösen in einer Bevölkerung oder bei Regierungen. Dies orientiert sich an der Montreal-Konvention von 1971 zum Schutz der Zivilluftfahrt. 150 Staaten traten ihr bei. Die US-Administration hatte aber kein Interesse, nach nationalem und internationalem Recht vorzugehen. Außenminister Powell intervenierte beim Präsidenten, der dann umschwenkte und den von ihm erkannten Terrortakt umfirmierte in einen „Act of War“. Das Trauma des japanischen Angriffs auf den Hafen von Pearl Harbor im Jahre 1941 wurde PR-gemäß hochgezogen: hier sei der Fall ähnlich. Der Kongress verlor alle Einsicht und autorisierte den Präsidenten, militärische Gewalt einzusetzen.
Und dann kam es zu oben genannter Sicherheitsresolution. Nur: Diese sprach nicht von einem Act of War, einem kriegerischen Akt, sondern einem terroristischen. Und von wem sollte denn ein kriegerischer Anschlag auf die USA ausgegangen sein? Von welchem Staat? Denn danach orientiert sich das Kriegsvölkerrecht. Weder Zivilpersonen noch nicht-kombattante Personengruppen können Kriege auslösen bzw. führen, das können nur Staaten.
Die UN-Resolution konnte keine völkerrechtliche Legitimationsgrundlage sein, den NATO-Fall, also die Beistandspflicht aller seiner Vertragsmitglieder nach Artikel 5 NATO-Vertrag am 12. Oktober 2001 auszulösen. Das US-Verhalten war kein Kunstfehler, sondern Rechtspraxis durch politischen Zwang. „Wir sind alle Amerikaner“, rief Bundeskanzler Gerhard Schröder im Deutschen Bundestag aus, um sich so der Rechtsbeugung der Amerikaner zu unterwerfen.

Wer hat ihm eigentlich widersprochen? Oder wer hat zumindest öffentlich gesagt, der militärische NATO-Beistand der Bundesrepublik folge – contra legem – aus außenpolitischer Zwangslage, um Sicherheitsinteressen Deutschlands nicht zu gefährden, da die USA Schutzmacht für Deutschland und die EU seien?
Zudem:
Selbst wenn man das Liften des Völkerrechts à la Bush hinnehmen wollte oder müsste, so ergibt sich ein weiterer Völkerrechtsverstoß aus Artikel 51. Denn Maßnahmen der individuellen und kollektiven Selbstverteidigung gelten nur solange, „bis der Sicherheitsrat die zur Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit erforderlichen Maßnahmen getroffen hat.“ Im Herbst 2001 war die Taliban-Herrschaft schon beseitigt, und Osama Bin Laden war nicht mehr in Afghanistan.
Es braucht nach allem keinen höheren Sachverstand, um zu erkennen, dass der Einmarsch in Afghanistan der NATO völkerrechtswidrig war und nur den geopolitischen Interessen der USA folgte. Und die Bundesregierung und der Bundestag kuschten. Auch heute noch. Und die sogenannte Operation „Enduring Freedom“ endete bereits am 28. Dezember 2014. Die Bundeswehr blieb jedoch bis 2021.

Als der Bundestag am 6. Oktober 2021 der Bundeswehr das Mandat zur Evakuierung der Soldaten und der Ortskräfte gab, fragte, soweit bekannt, keiner nach der Völkerrechtslegitimation. Inzwischen hatte Afghanistan ja neue Machthaber, da sich die US-Armee überstürzt davon gemacht hatte. Lag eine Zustimmung der neuen Machthaber vor? Oder hatte der Sicherheitsrat ein entsprechendes Mandat erteilt? Oder handelte man nach dem Prinzip „Not kennt kein Gebot“ oder aus einer aus dem Strafrecht bekannten „Garantenpflicht“ aus vorangegangenem Tun? Die von der Bundesregierung gerne ins Feld geführte Völkerrechtsbindung, eine „regelbasierte Ordnung“ sieht anders aus.
Was bleibt aus allem? Verzweiflung? Empörung, dass man es sich hat gefallen lassen, so düpiert zu werden? Welche im Bundestag vertretenen Parteien sind diesem Schauerstück des Rechts nachgegangen?
Wir, die demokratische Wertegemeinschaft (gibt es die?) haben Chaos hinterlassen, 70 Staaten waren an dem Feldzug gegen den tatsächlich zu fassenden Terror beteiligt. 72.000 Menschen wurde allein in Afghanistan getötet. Wie es heute dort aussieht und was der Islam des Taliban-Kalifats den Frauen antut, führt uns die aus Afghanistan stammende Kölner Ethnologin und Journalistin Shikiba Babori im Buch „Die Afghaninnen – Spielball der Politik“ (Frankfurt/ New York 2022) vor Augen: eine Schreckensbilanz.

Und wir hatten solch brillante Sprüche eines Verteidigungsministers wie Peter Struck zu ertragen, wonach unsere „Freiheit am Hindukusch verteidigt“ werde. Da ist mir eine unfreiwillige Kabarett-Größe wie Eddi Stoiber mit seinem Satz „Lieber Hindelang als Hindukusch“ schon lieber, wenngleich der afghanische Abgrund an mangelnder Rechtsstaatlichkeit zum Lächeln wenig Anlass bietet.
„Was bleibet aber, stiften die Dichter“? Wenn doch Friedrich Hölderlin nur Recht hätte. Theodor Fontane kritisiert mit seiner eindrucksvollen Ballade den Kolonialismus und so in gewisser Weise auch unsere Geschichte, wenn wir auf Afrika blicken.
Also doch das Land der Dichter und Denker? Kluge Historiker und Völkerrechtler an den Universitäten gibt es genug, deren Bücher müssen aber gelesen und verstanden werden und jene der Dichter in Lyrik und Roman ebenso.
Wie gerne würden wir in einem Deutschland der Dichter und Denker leben. Es gibt es. Aber nur in uns. Im geheimen, im Deutschland der Lüfte. Schade. Deutschland bleibt ein Wintermärchen.

Letzte Änderung: 05.08.2023  |  Erstellt am: 05.06.2023

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Kommentare

Rolf Stolz schreibt
Eine ausgezeichnete Übersicht - vom Sturz des Königs über Daud und den Krieg der zwei Richtungen in der KP mit dem verzweifelten Versuch Amins, daß die UdSSR ein unabhängiges Afghanistan akzeptiert, über die russische und die amerikanische Invasion eine einzige Tragödie!
Ewart Reder schreibt
"Welche im Bundestag vertretenen Parteien sind diesem Schauerstück des Rechts nachgegangen?", fragt Matthias Buth. Antwort: die PDS / Die Linke: https://www.transform-network.net/de/blog/article/die-linke-on-bundeswehr-deployment-in-afghanistan/ Dass die völkerrechtliche Argumentation der US-Regierung nicht der Hauptunkt des linken Interesses war, sollte nicht irritieren, eher einleuchten angesichts des arbiträren Umgangs sämtlicher US-Regierungen mit dem Völkerrecht. Exakt juristisch argumentierte zum Beispiel Gregor Gysi, nachdem in Afghanistan z w e i Militäreinsätze parallel liefen. Der erste von ihnen, "Enduring Freedom", berief sich dabei auf die von Buth erwähnte SR-Resolution 1368, war also aus Sicht der beteiligten Regierungen völkerrechtlich legitimiert. Wie Gysi in einem Gespräch mit Dirk-Oliver Heckmann im dlf 2007 aufzeigt, war diese Argumentation wenige Wochen nach Kriegsbeginn schon nicht mehr haltbar: "Heckmann: Gehen wir noch mal in die Außenpolitik, Gregor Gysi. Sie reden bei Afghanistan immer davon, dass da ein völkerrechtswidriger Krieg stattfinden würde. Aber es gibt ein UNO-Mandat, es gibt Bundestagsmandate. Und das Bundesverfassungsgericht hat ja Ihre Klage dementsprechend, was die Tornado-Einsätze angeht, zurückgewiesen. Gysi: Also, erstens gibt es zwei Einsätze. Bei dem ersten haben wir nicht bestritten, dass der vom Sicherheitsrat beschlossen ist und insofern völkerrechtlich legitim, das ist ISAF. Wir bestreiten allerdings, dass „Enduring Freedom“ völkerrechtsgemäß ist. Und das ist ein Selbstverteidigungsrecht der USA und anderer Staaten. Heckmann: Aber Sie wollen ja ganz raus! Gysi: Ja, ja. Heckmann: Aus allen Mandaten! Gysi: Das eine ist eine politische Frage, das andere ist eine rechtliche Frage. Lassen Sie mich bloß diesen Unterschied machen. Das heißt, die Vereinigten Staaten von Amerika behaupten, sie hätten immer noch ein Selbstverteidigungsrecht gegenüber Afghanistan. Und wir sagen, die haben eine befreundete Regierung, und gegenüber einem befreundeten Staat kann man sich nicht auf ein Selbstverteidigungsrecht berufen. Afghanistan greift die USA nicht an. Und deshalb sagen wir, das ist völkerrechtswidrig, „Enduring Freedom“, nicht ISAF. Und nun kam das Problem, dass der Generalbundeswehrinspekteur vor dem Bundesverfassungsgericht erklärt hat, dass die Fotos, die Tornado machen, nur mit Zustimmung von ISAF an „Enduring Freedom“ gehen, und dass es deshalb keine Vermischung gäbe. Ich halte das für falsch, denn der stellvertretende Chef von ISAF ist der Chef von „Enduring Freedom“, und ich glaube, man kann das gar nicht auseinander halten. Aber er hat das so behauptet. Und nun hat sich das Bundesverfassungsgericht sich darauf verlassen. Und nun ist es auch Sache der Journalistinnen und Journalisten, mal rauszukriegen, ob das so stimmt. Und wir werden jetzt einen Antrag stellen, wo der Bundestag beschließen soll, auf gar keinen Fall an „Enduring Freedom“ teilzunehmen. Denn die Frage hat das Bundesverfassungsgericht offen gelassen, ob das völkerrechtsgemäß ist oder nicht. Heckmann: Aber das ist ja eine Diskussion, die in anderen Parteien auch stattfindet, auch in der SPD. Da haben Sie kein Monopol drauf. Gysi: Ach ja, wunderbar. Die SPD wollte sogar eine Unterschriftenaktion für gesetzlichen Mindestlohn machen. Na, und haben wir einen gesetzlichen Mindestlohn? Wir haben ihn nicht, weil die Union ihn nicht will. Und was sagt die SPD jetzt? Sie möchte gerne 2009 mit der FDP koalieren. Na, dann werden Sie mal sehen, wie die FDP dem gesetzlichen Mindestlohn zustimmt. Das heißt, die SPD schreibt ihn schon wieder ab. Nein, gerade weil sie darüber diskutieren – jetzt über die Truppen in Afghanistan – haben wir gesagt, bringen wir doch mal so einen Antrag. Mal sehen, wie sich die SPD dann dazu verhält. Wissen Sie, Politik muss auch ehrlich sein. Es geht da nicht nur darum, dass ich irgendwas in den Medien erzähle, sondern, wenn es dann im Bundestag zur Abstimmung steht, dann sollen sie auch dazu stehen. Wir sind natürlich nicht nur dafür, sich nicht an „Enduring Freedom“ zu beteiligen, wir glauben auch, dass ISAF nicht mehr die Probleme löst, sondern im Gegenteil. Deshalb wollen wir, dass Deutschland insgesamt seine Soldaten aus Afghanistan abzieht. Das geht darüber hinaus. Heckmann: Aber wie soll da bitte Wiederaufbau stattfinden, wenn eben nicht für Sicherheit gesorgt wird? Ist es nicht populistisch, zu sagen, „raus aus Afghanistan“, und nicht dazu zu sagen, dass man Afghanistan nicht den Afghanen zurück gibt, sondern dem Bürgerkrieg und den Taliban, so wie es Außenminister Steinmeier formuliert hat? Gysi: Ja, also erstens: Die Taliban sind gar nicht mehr in Afghanistan, die sind in Pakistan. Und die kommen nur rüber nach Afghanistan, um dort Kämpfe mit den USA zu führen. Verstehen Sie, das ist die Realität von heute! Heckmann: Und die kommen nicht mehr, wenn die Soldaten nicht mehr da sind? Gysi: Nein, habe ich nicht gesagt. Zweitens: Die Selbstbefreiung der Völker ist immer Aufgabe der Völker. Dabei kann man ihnen helfen. Dann müssen Sie sich eine Argumentation sehr gut überlegen. Da sagt mir zum Beispiel auch eine Grüne: Ja, und die Mädchen können jetzt zur Schule gehen. Dann sage ich: Das konnten die unter den Sowjets auch. War das wirklich ein Grund, die Invasion der Sowjets zu befürworten? Nein, sagt sie. Ich sage, ja, wie dann? Die Frauen haben bei den Sowjets eine Entwicklung bekommen, die sie vorher in Afghanistan gar nicht kannten. Aber das rechtfertigt den Einmarsch nicht, verstehen Sie? Das Militärische kann ich nicht mit solchen Dingen aufwiegen, das kriege ich nicht hin. Es muss eine Selbstbefreiung der Völker geben, dabei kann ich sie unterstützen. Wenn wir zum Maßstab machen und sagen, wir gehen überall mit unseren Soldaten hin, wo es ungerecht ist, um die Ungerechtigkeit zu überwinden, dann müssen wir einen Weltkrieg führen. Ich glaube zum Beispiel daran, dass die USA lange über eine Pipeline mit den Taliban verhandelt haben wegen Erdöl. Und dann scheiterten die Verhandlungen. Das hat das Verhältnis sehr getrübt. Ich weiß, dass Irak einer der größten Erdölproduzenten der Welt ist. Das hat mit zum Einmarsch geführt. Das kotzt mich ja gerade so an, dass ich das Gefühl habe, wir sind wieder Jahrhunderte zurück. Jetzt geht es um andere Rohstoffe, nicht mehr Stahl und Kohle, das ist nicht mehr so wichtig, verstehen Sie? Aber Erdöl ist wichtig, Erdgas ist wichtig, und darum werden wieder Kriege geführt. Und ich würde das gerne überwunden sehen im 21. Jahrhundert." Quelle: https://www.deutschlandfunk.de/gysi-keine-deutsche-soldaten-bei-enduring-freedom-100.html Worin ich Matthias Buth zustimme, ist sein juristischer Zweifel an der Konstruktion des "Kriegsfalls" nach dem 11. September 2001, also implizit an der Rechtmäßigkeit der SR-Resolution 1368 selbst. Dennoch waren die PDS und später Die LInke zu jeder Zeit, auch juristisch, diejenigen im deutschen Bundestag, die den Krieg in Afghanistan mit guten, von den übrigen Partein allerdings ignorierten Argumenten abgelehnt haben.
Moshe ben Zvi schreibt
Ausgezeichnetes Essay - mit einem außergewöhnlich breiten Themenspektrum, tiefen politisch-kulturellen Vergleichen. Kultur, Literatur, Politik, Deutschlands Selbst(ein)schätzung als "Land der Dichter", Afghanistan-Parallele - und das in einem Thema vereint! Aus vielen Themen in diesem Essay möchte ich besonders das Thema „Völkerrecht“ betonen, das im Essay am Beispiel von Afghanistan angesprochen wird (auch in Anlehnung an Fontanes Gedicht „Das Trauerspiel von Afghanistan“). Die Frage: „Welchen Wert überhaupt hat das Völkerrecht in unserer Zeit?“ kann eher mit „Keinen“ beantwortet werden, weil das Völkerrecht von den „großen Spielern der Weltpolitik“ mit Füssen getreten wird. Was suchten in Afghanistan die Engländer (oder genauer: das damalige Imperium)? Welche Ziele verfolgte die UdSSR mit ihrer Militäroperation? Welche Ziele verfolgte die USA? Egal, welche Ziele da genannt werden würden, dahinter steht m.E. erst einmal die (um es milde auszudrücken) Nichtbeachtung des Völkerrechts (auch seitens der Bundesregierung, wie es im Essay betont wird). Das Ergebnis des westlichen „Afghanistan-Projekts“ ist verheerend – KEIN offiziell erklärtes Ziel (bspw. die Aufstellung/Unterstützung der Demokratie – im westlichen Sinne des Wortes, versteht sich! – oder die Bekämpfung des islamischen Terrorismus) wurde erreicht, das gesamte Land wurde weitgehend zerstört, weit mehr als eine Million Menschen haben ihr Leben verloren. Im Allgemeinen stellte das „Afghanistan-Projekt“ (oder, etwas prosaischer ausgedrückt, das „Afghanistan-Abenteuer“) grobste Völkerrechtsverletzung ohne nennenswerte Begründung bzw. ohne nennenswerten, auf die Besserung der Lages des afghanischen Volkes, abgezielten realistischen Plan. Eine indirekte Folge dieses gescheiterten "Projekts" (oder ähnlicher "Projekte") scheint Russlands unverhülltes Projekt der Umbau der Weltordnung (ein Projekt, dem, so scheint es, kein wirksames Paroli geboten wird).

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