Generalpläne

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Polens Geschichte zwischen imperialen Staaten
„Jeszcze Polska nie zginęła“ | © wikimedia commons

Donald Tusk, der mit seinem Parteienbündnis die nationalkatholische Regierung Polens abgelöst hat, kommt auf Deutschland zu, um das Verhältnis beider Staaten in gegenseitigem Interesse zu erneuern und zu stabilisieren. Dass dabei wieder die Vergangenheit eine Rolle spielen wird, ist sicher. Seit 1927 singen die Polen ihre Nationalhymne „Jeszcze Polska nie zginęła“: Noch ist Polen nicht verloren. Matthias Buth erzählt von der Geschichte Polens zwischen Russland und Deutschland.

Es gibt einen politischen Zweiklang, der die ersten Jahre der alten Bundesrepublik nach dem Zweiten Weltkrieg bestimmte, dann fast unterging mit dem Wunder der Deutschen Einheit von 1990, nun aber wieder hörbar ist. Er hat in andere Tonarten gewechselt, in andere Staaten. Nun wird er wieder gespielt: Flucht und Vertreibung.

Ein Doppelbegriff, der in der westdeutschen politischen Sprache zu einer Leitmelodie führte, die das eigene Schicksal beschwor und beklagte und zugleich eine andere Funktion hatte: nämlich wegzudrücken aus dem historischen Erkennen und Erinnern, was im und durch den Krieg des Deutschen Reiches in Gang gesetzt, anderen angetan wurde und zwar ungleich schrecklicher.
Was zwischen1944 und 1950 etwa 14 bis 15 Millionen Deutschen aus den historischen deutschen Provinzen wie Ost- und Westpreußen, Neumark, Schlesien und aus den sogenannten Sudetengebieten in Böhmen und Mähren widerfuhr, war ein Schrecken und ein Morden: etwa zwei Millionen blieben liegen links und rechts der Straßen, sie kamen nicht durch oder wurden erschossen. Diese auf der Flucht umgekommenen Menschen und die 12 Millionen Ost-Vertriebenen zahlten für die deutschen Verbrechen, und das zu Zeiten, wo man noch vom „Zusammenbruch“ und nicht vom „Tag der Befreiung“ politisch sprach. Der 8. Mai 1945 hatte sich gewandelt, besonders durch Richard von Weizsäcker, durch dessen Rede vom 1985 als Bundespräsident.
Und sie waren nicht willkommen, nicht in der SBZ und in der späteren DDR, wo sie als „Umsiedler“ diffamiert, so ihres Schicksals entledigt, d.h. sprachpolitisch gedemütigt wurden und auch nicht in der Alt-BRD, wo man sie als „Pollacken“, Wohnungssuchende, ja als Eindringlinge missachtete. Hinten anstellen, das war die Parole. Das wirkt nach, bis heute, wo die Vertriebenenfamilien kaum etwas an die nächste Generation weitergeben können, das Vererben ist für die damals Entwurzelten eine stille Post. Von den alten Häusern blieben ihnen nur die Schlüssel. Selbstfindung, gar Identität zu begründen, war ein langsamer Prozess, nur wenig gemildert durch das Lastenausgleichsgesetz und die Vertriebenenpolitik.

Polen hat mit Donald Tusk eine neue, EU-freundliche Regierung seit der Jahreswende 2023/24. Manche meinten, die Forderungen nach Reparationen, nach Ansprüchen, welche die abgewählte PiS-Regierung an die Bundesrepublik in Höhe von 1,3 Billionen Euro gestellt hatte, seien vom Tisch, hatte die Bundesregierung doch mehrfach auf die Völkerrechtslage verwiesen, nicht zuletzt auf den Zwei plus Vier-Vertrag zur Deutschen Einheit, der wie ein Friedensvertrag wirkt. Tusk kam aber in Berlin Anfang des Jahres darauf zurück, moderat, aber bestimmt und erwartet ein sichtbares Zeichen, das zum Beispiel in der Finanzierung des von der Wehrmacht zerstörten und nun wiederaufzurichtenden Brühlschen Palais in Warschau erkennbar wäre. Manche wenden ein, die ehemaligen Ostprovinzen des deutschen Staatsgebietes, die ja nun rechtlich verbindlich an Polen und die Sowjetunion (heute Russland) gefallen sind durch den völkerrechtlichen Verzicht der Bundesrepublik Deutschland, seien mehr wert als die Billionensumme und man könne gegenrechnen. Man kann das tun, aber nobel wäre es nicht. Menschenleben und auch Kulturgeschichte haben keinen merkantilen Wert.
Die Seelenlage unseres östlichen Nachbarn zu erfassen, ist mühsam und zwingt, auch in den eigenen Spiegel zu schauen. Tusk bat darum, dass kein „Zerwürfnis“ die bilateralen Beziehungen belasten möge und betonte, das Wort „Reparationen“ sei in der Note an die Bundesregierung gar nicht enthalten.

Was ist im deutschen Bildungsbürgertum, in Schulen und Parlamenten eigentlich von dem noch bekannt, was den schrecklichen Titel „Generalplan Ost“ hatte? Diktatoren zeichnen gerne die Landkarten neu. Putin macht es seit Jahrzehnten und hat seit 2014 mit der Krim begonnen und seit 2022 die gesamte Ukraine im Visier, nun auch Transnistrien, die Baltischen Staaten und andere Staaten, die er der „Russischen Welt“ zurechnet. Hitler machte es nicht anders, nannte den Osten Europas nicht „Deutsche Welt“, jedoch noch mehr imperial und brutaler „Lebensraum“ für die germanische Rasse, für uns Deutsche. Er wollte das vollständige Umgestalten der europäischen Landkarte, vom Wahn getragen, „das Deutsche“ sei dazu bestimmt, die Welt zu regieren, zu unterwerfen und andere Völker zu vernichten. Putin argumentiert nicht deckungsgleich, ist aber von einem ähnlichen rassischen Sendungsbewusstsein getragen. Das Russische ist für ihn das Heilige, und so der sogenannten versifften Welt des „kollektiven Westens“ überlegen. Putin will das Nazitum bekämpfen, lehnt sich aber an die Naziideologie an, ein perverser Denker.

„Wenn wir aber heute in Europa von neuem Grund und Boden reden, können wir in erster Linie nur an Russland denken. Das Schicksal selbst scheint uns hier einen Fingerzeig zu geben…Das Riesenreich im Osten ist reif zum Zusammenbruch“, schrieb vor genau einhundert Jahren in der Festungshaft der größte Verbrecher aller Zeiten. An solche Phantasmen schloss 1939 Heinrich Himmler, der sogenannte Reichsführer SS, an, der nach dem Überfall auf Polen am 1. September jenes Jahres zum „Reichskommissar für die Festigung des Deutschen Volkstums (RFK)“ ernannt worden war. Der Gestapo-Chef Reinhard Heydrich sprach von der „etappenweise Übernahme Osteuropas“. Im Reichssicherheitshauptamt (RSHA) wurde der Generalplan Ost konzipiert, der die Germanisierungspolitik der Nazi-Regierung bestimmen sollte. Diese erfasste neben dem eroberten Polen die Länder Estland, Lettland, Litauen, Weißrussland, die Westukraine, die Krim und Teile des Dnjepr-Bogens und betraf 45 Millionen Menschen, wovon 31 Millionen als „rassisch unerwünscht“ bezeichnet wurden; diese sollten nach Sibirien vertrieben werden. In all dies war das KZ-System des Holocaust mit sechs Millionen Toten eingebunden. Im Entwurfspapier des Generalplans vom Juni 1942 wird das perverse Denken deutlich: „Vor allem wird die Dauer unserer kolonisatorischen Kraft darüber entscheiden, ob es der nächsten Generation gelingt, erstmalig die nördliche und südliche Richtung der historischen Germanenzüge zu einem in der Mitte geschlossenen Raum zu verbinden und damit endgültig die europäische Kultur zu sichern.“

Die nationalsozialistische Ideologie war durchdrungen von einer Vorstellung vom deutschen Volk als einer, nein: als der Herren-Nation. Diese war frei von jeder Erkenntnis aus der Geschichte der Ethnien und Kulturen Mitteleuropas und blies sich in einer zusammenphantasierten Biologie des Völkischen auf.

Wenn wir heute zurecht erschaudern, wenn Begriffe wie Umvolkung, Remigration und Abschiebung die politische Sprache erreichen, so deshalb, weil uns diese Termini wieder einholen. Der Krieg der deutschen Wehrmacht sollte nach den angestrebten Annexionen die ansässige Bevölkerung töten oder vertreiben, um dann aus anderen Regionen Europas Deutsche in jene Gebiete umzusiedeln. Dafür hatte man eine heute kaum noch bekannte Organisation gegründet, die Volksdeutsche Mittelstelle. Diese sollte die Volksdeutschen „heim ins Reich“ holen, nicht in jenes von 1937, sondern in das Großdeutsche Reich der Eroberungen. Besonders Polen hatte darunter zu leiden. Es sollte germanisiert werden. Unter Werner Lorenz war die Volksdeutsche Mittelstelle eine Organisation der SS in elf Abteilungen mit Außenstellen in Litzmannstadt (Lodz im „Warthegau), Wien, Krakau und Riga sowie dem Sonderkommando R beim Höheren SS- und Polizeiführer (HSSPF) in Kiew. Die Dienststellen in Paris und Brüssel waren den örtlichen HSSPF unterstellt. Planvoll und brutal wurde remigriert, so aus dem Baltikum, Rumänien, Südtirol, Bessarabien, der gesamten Bukowina und österreichischen Regionen wie Steiermark und Kärnten. Polen hat durch die deutschen Vernichtungsaktionen, durch Genozid, Zwangsarbeit und Vertreibungen sechs Millionen Menschen verloren. Diese Zahl wird in der Regel mit dem Holocaust verbunden und auf unsere jüdischen Mitbürger, Sinti und Roma und andere Personengruppen bezogen, also Menschen, die in den KZs ermordet und verbrannt wurden. Der jüdische Anteil am Volk der Polen war etwa mit drei Millionen der höchste in den Staaten Europas. Alle Juden waren polnische Staatsbürger. Und so ist die Zahl „Sechs Millionen“ zweifach im historischen Gedächtnis Europas, besonders in Polen und sollte es auch in Deutschland sein.

Die sowjetische Regierung ließ sich im Zuge der Verhandlungen zur Deutschen Einheit vom 3. Oktober 1990 den Erhalt der vor allem in Berlin zahlreichen Kriegsdenkmäler zusichern, eine Verpflichtung, welche die Bundesregierung und das Land Berlin erfüllt. Dort steht unter den alten T 34 Panzern, dass man sich erinnern solle an den Krieg in der Zeit von 1941 (Beginn des Einmarsches der Wehrmacht in die Sowjetunion) bis zu der Kapitulation der deutschen Truppen am 8. bzw. – nach Kremllesart – am 9. Mai 1945. Die Zahleneingaben 1941 und 1945 sind für Polen jedoch schwer zu ertragen und sind in der Tat eine Verfälschung der Geschichte, denn das geheime Zusatzprotokoll zum Ribbentrop-Molotow-Pakt vom 23. August 1939 (dem Nichtangriffs-Pakt) legte die Aufteilung Polens zwischen Deutschland und der Sowjetunion fest mit der Folge, dass nach dem Angriff der Wehrmacht auf Polen am 1. September 1939 sogleich russische Truppen in den Ostteil Polens einfielen und diesen besetzten. Das Massaker an polnischen Offizieren und Intellektuellen in Katyn war russischer Genozid in dieser Besatzungszeit.

Davon will Putin heute nichts wissen. Die Polen aber sehr wohl. Und dies auch im Hinblick auf die drei polnischen Teilungen in den Jahren 1772, 1793 und 1795, als Polen schließlich als Staat von der Landkarte verschwand – ein Trauma, das fortwirkt und nun seit dem Angriff Russlands auf die Ukraine umso mehr. Auch Putins öffentliche Einlassungen, Polen sei am Ausbruch des Zweiten Weltkrieges schuld, da es Hitler nicht rechtzeitig territoriale Zugeständnisse u.a. im Raum Danzig gemacht habe, verstärken die Sorgen (und lassen einiges hinsichtlich der Ukraine befürchten).
Die Volkstumspolitik von Russland und Deutschland in den 30er Jahren des letzten Jahrhunderts ähnelte sich und war von imperialen Strategien getragen. In der Gegenwart wird erkennbar, dass von Putin Vorstellungen von Stalin (nicht etwa von Lenin) aufgegriffen werden. Dass er in den ersten Wochen nach dem 24. Februar 2022 auf Goebbels Bezug nahm und dessen Taktik der Wiederholung, ist besonders makaber. Die NS-Symbolik und NS-Sprache nimmt er auf, um damit die angeblichen Nazis in der Ukraine zu eliminieren. Spiegelverkehrt.

Am 1. September gedenken wir alljährlich des Überfalls auf Polen, auf die Stadt Wielun, auf die Inszenierung der Nazis beim Sender Gleiwitz. In diesem Jahr sehen wir auf diesen Krieg, den wir Deutsche entfesselt haben mit Blick auf die Ostfront in der Ukraine mit bangem Herzen und mit Furcht. Jedoch fast gelähmt bis zum Entsetzen erwarten wir an diesem Tag das Ergebnis der Landtagswahl in Thüringen, sehen den dorthin gewanderten Geschichtslehrer H., der uns zugerufen hat, wir bräuchten „eine erinnerungspolitische Wende um 180 Grad“, der das Holocaust-Denkmal inmitten von Berlin als „Denkmal der Schande“ bezeichnet hat, der in einem Buch vom „bevorstehenden Volkstod durch Bevölkerungsaustausch“ schwadroniert, der ein groß angelegtes „Remigrationsprojekt“ fordert und dabei „wohltemperierte Grausamkeiten“ für unvermeidlich hält, der davon spricht, dass „wir leider ein paar Volksteile verlieren werden, die zu schwach oder nicht willens sind, sich der fortschreitenden Afrikanisierung, Orientalisierung und Islamisierung zu widersetzen“, der vorgibt zu wissen, wie die Deutschen dächten, wenn er schreibt: „Wenn einmal die Wendezeit gekommen ist, dann machen wir Deutsche keine halben Sachen, dann werden die Schutthalden der Moderne beseitigt.“

Wer so schreibt und spricht, ist ein deutscher Nationalsozialist, einer, der Grauen auslöst, der aufwiegelt und den freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat und die im Deutsche Welle-Gesetz normierte Idee von Deutschland als „europäisch gewachsene Kulturnation“ angreift aus Dummheit, Dumpfheit und goebbelschem Pathos und Lüge.

Was sollen die Polen dazu sagen, was die Parteien von CDU, CSU, SPD, Bündnis 90-Die Grünen, FDP und die Kleinparteien Linke, BSW u.a? Ist bei jenen ein solches Denken völlig ausgeschlossen? Was setzt die Bundesregierung dagegen, nicht mit einem diffusen bis selbstrefentiellen „Gegen rechts“, sondern mit einer Erzählung von Deutschland, dem Sprach-Land, in einem großen geschichtlichen Bogen, der vom Einwanderungsland Deutschland seit dem 8. Jahrhundert erzählt, vom 19. Jahrhundert mit der Romantik, den Freiheitsbewegungen und dem Zeitalter der rechtlichen Kodifikationen und auch, ja auch mit der Seele, die in der deutschen Musik und Literatur liegt, die deshalb so ansprechend ist, da sie eben nie nur deutsch war, sondern aus der Welt und so aus anderen Kulturen aufgenommen, sich das sogenannte Fremde anverwandelt hat.

Auf Initiatiave u.a.von Dieter Bingen, dem damaligen Direktor des Deutschen Polen-Instituts, sollte in der Bundeshauptstadt in Berlin-Mitte ein Sichtbares Zeichen zur Erinnerung an die polnischen Opfer der deutschen Besatzung in der Zeit von 1939 bis 1945 gesetzt werden, ein Gedächtnisort sollte entstehen, eben ein Denkmal. Bisher ist die auch von Rita Süssmuth und Wolfgang Thierese unterstützte Idee noch nicht greifbar. Weder Grütters und Roth waren offen für diese gute Idee. Frau Roth will aus dem Polen-Denkmal nun ein „Deutsch-Polnisches Haus“ machen. Damit wird aber der politischen Erwartung der Polen nach einer sichtbaren Wahrnehmung ihres Leids kaum entsprochen.

Donald Tusk und der Kreis um Dieter Bingen wollen eben nach wie vor ein Sichtbares Zeichen.

Was auch immer nun aus dem Denkmal zur deutschen Besatzung in Polen von 1939 bis 1945 wird oder gar aus einem Deutsch-polnischen Haus à la Roth, es wäre nur ein erster Schritt.

Letzte Änderung: 19.03.2024  |  Erstellt am: 13.03.2024

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Kommentare

Dr. Peter Koch-Sembdner schreibt
Der lesenswerte, gehaltvolle Artikel von Buth findet meine volle Zustimmung. Die von der PIS erhobenen Reparationsforderungen sind völkerrechtlich sowie aus weiteren Gründen (Verluste aus der Vertreibung) unhaltbar uns sollten endgültig von der Agenda verschwinden. Donald Tusk ist für die Demokratie in Polen und den europäischen Zusammenhalt von enormer Bedeutung. Wenn er in Berlin um eine Handreichung im Hinblick auf die Geschehnisse im 2. Weltkrieg anfragt, sollte sie ihm gewährt werden. Ob in Form eines Instituts oder einer Universität, ist doch nachrangig. Dem Artikel sollte hinzugefügt werden, dass die EU nach dem Bericht auf tagesschau.de vom 29.2.2024 den stolzen Betrag von 137 Milliarden € an Polen freigegeben hat. Es wäre interessant zu erfahren, welchen Anteil daran Deutschland finanziert.
Dr. Moisei Boroda schreibt
Ein tief in die Wurzeln der „deutsch-polnischen Frage“ eindringender Essay mit einem weiten historisch-politischen Blick in die Geschichte – und in die jüngste Gegenwart. Die Thesen Matthias Buth´s, „Volkstumspolitik von Russland und Deutschland in den 30er Jahren hat Putin aufgegriffen" und „In der Gegenwart wird erkennbar, dass von Putin Vorstellungen von Stalin aufgegriffen werden“ – sind vollkommen korrekte Feststellungen. Der Zweite Weltkrieg wurde von der Sowjetunion und Hitler-Deutschland gleichzeitig entfesselt; die (vorläufige) Waffenbrüderschaft beider Aggressoren wurde mit der gemeinsamen Militärparade deutscher und sowjetischer Panzereinheiten am 22. September 1939 besiegelt. „Diktatoren zeichnen gerne die Landkarten neu.“ Oh ja! Stalin baute sein „Tausendjähriges Russisches Reich“ – ganz in der Tradition der weltumspannenden Eroberungspolitik des Zarenreiches, aber auch des Nationalbewusstseins des russischen Volkes. Nicht umsonst beklagen sich viele in ihren Internet-Kommentaren über den Zerfall der Sowjetunion; nicht umsonst schwingt in vielen, vielen dieser Kommentare die Sehnsucht nach der Stalinzeit; nicht umsonst wächst in Russland die Zahl der Stalin-Denkmäler exponentiell. Putins Eroberungsdoktrin kann daher als „Russlands Eroberungsdoktrin“ bezeichnet werden. Sie manifestierte sich nach dem Zerfall der UdSSR zunächst in der Aggression gegen Georgien, dann in Tschetschenien, auf der Krim, in der Ukraine – nach dem Motto „Heute gehört uns Russland und morgen die ganze Welt“. Die Geschichte wiederholt sich, begleitet von „Chamberlainiane“ der westlichen Staaten. Zum Glück, ändert sich langsam – zu langsam! - diese Tendenz, aber immerhin… Was ist die „historische Verantwortung Deutschlands“ in Bezug auf den 01.09.1939? Jawohl, kein besetztes Land außer der UdSSR hat so sehr unter der deutschen Besatzung gelitten wie Polen. „Am 1. September gedenken wir alljährlich des Überfalls auf Polen“, schreibt Matthias Buth. Ein weiteres Zeichen des fundamentalen, aufrichtigen, großartigen „seelischen Umdenkens“ einer Nation, eines Staates, der einst eine Bedrohung für die Welt darstellte und sich zu unglaublichen Verbrechen hinreißen ließ. Nun stellt sich die Frage: Reicht dieses Erinnern nicht aus, muss Deutschland noch vielmehr tun? Und wenn überhaupt, dann sollte das doch freiwillig, ohne Erinnerungszwang geschehen – oder? Schuld darf doch nicht vererbt werden, sonst entstehen „im Volke“ die rechtsradikalen Tendenzen, von denen Matthias Buth völlig zu Recht empört schreibt. Die Wunden der „Generalplan Ost“- Opfer, die zerstörten Leben von Millionen völlig unschuldiger Menschen schreien zum Himmel. Aber auch das Schicksal der Vertriebenen mit Millionen von Opfern - nicht nur aus Polen, denken wir auch an das Schicksal der Deutschen, die aus der Tschechoslowakei vertrieben wurden – auch das schreit zum Himmel, zumal die absolute Mehrheit dieser Menschen mit dem genannten „Plan“ nichts zu tun hatte. Gegenrechnungen. Gegenrechnungen… Nun, die Vertriebenen treten nicht (mehr) mit Gegenrechnungen auf, ihnen bleiben, wie Matthias Buth treffend formuliert, nur die Schlüssel zu ihren Häusern. „Tusk bat darum, dass kein „Zerwürfnis“ die bilateralen Beziehungen belasten möge und betonte, das Wort „Reparationen“ sei in der Note an die Bundesregierung gar nicht enthalten.“ Gut so - aber: Wo ist dann die (feine?) Grenze zwischen Reparationen und dem „sichtbaren Zeichen, das zum Beispiel in der Finanzierung des von der Wehrmacht zerstörten und nun wiederaufzurichtenden Brühlschen Palais in Warschau erkennbar wäre“? Gegenrechnungen… Gegenrechnungen… Die an die UdSSR „übergegangene“ Stadt Königsberg. Raubbeute. Hunderte, Tausende von der „befreienden“ Sowjetarmee vergewaltigte Frauen – war/ist die Stimme der Reue von russischer Seite zu vernehmen? Eine rhetorische Frage! „Wir können’s wiederholen“ - das ist die Stimme, die seit dem jüngsten Überfall auf die Ukraine zu sehen/zu hören ist. Fragen… Fragen… Fragen. Es wäre noch viel mehr über diesen Essay zu sagen – nun, auch ein ausgeprägter Kommentar muss Grenzen haben. Die Besonderheit dieses Essays liegt in dem ruhigen Ton, in dem er gehalten ist und gleichzeitig in seiner emotionalen Ansprache.
Prof. Dr. Dieter Bingen schreibt
In seinem leidenschaftlich sachlichen Essay legt Matthias Buth den Finger in gleich mehrere Wunden früherer und aktueller Kultur der Erinnerung und Unkultur der Verdrängung und des Vergessens in fast 80 Jahren deutscher Nachweltkriegszeit. Es ist ein Gemeinplatz, dass die deutsche Erinnerungs- und Gedenkkultur sich seit den 1970er Jahren zeitweise geradezu als Vorbild für andere - um es etwas despektierlich zu formulieren - "vermarkten" ließ. Und tatsächlich ist in der Erinnerungs- und Gedenklandschaft in den letzten Jahrzehnten bis jüngst Herausragendes geschehen. Aber die Defizite und Leerstellen fallen ebenso auf. Matthias Buth fragt: "Was ist im deutschen Bildungsbürgertum, in Schulen und Parlamenten eigentlich von dem "noch" bekannt, was den schrecklichen Titel "Generalplan Ost" hatte?" Ich frage; Wieso "noch"? Das, was der "Generalplan Ost" bedeutete, ist vermutlich in Deutschland - West und Ost - nie wirklich wahrgenommen und begriffen worden. Gerade auch im "deutschen Bildungsbürgertum", das nur noch in Spurenelementen präsent ist. Und alles das Nichwissen, Nichwahrnehmen, das Desinteressement, es betrifft bis heute das gesamte Europa östlich der deutschen Grenzen, das eine Land mehr, das andere weniger. Daran konnte auch die sogenannte EU-"Osterweiterung nicht schrecklich viel ändern. Profiteur von alledem ist Russland, das in Deutschland - ebenfalls aus Unkenntnis - traditionell einen "Stein im Brett" hat, möge da sein, was wolle. Hauptsache, es ist groß und mächtig, brutal, tief und unergründlich - mit daraus erfolgenden Sonderrechten. Die Ukraine muss es ausbaden, ein Land und eine Kultur, die in Deutschland bis 2014 eine terra incognita waren, und, wenn überhaupt, mit der Moskauer Lesebrille gesehen wurde ("Russia first"). Und wieder ein Andererseits: Man sollte nicht verzweifeln. Es gibt in diesem Lande auch Entwicklung und zwar in einigen Bereichen sogar nach vorne! Das betrifft die Wahrnehmung und den Stellenwert der Ukraine in der deutschen Gesellschaft. Und es betrifft auch ein Thema, das Matthias Buth in seinem letzten Gedankengang aufgreift: ein "sichtbares Zeichen" zur Erinnerung an die Opfer der deutschen Besatzung in Polen 1939-1945. Seit Anfang diesen Jahres kristallisiert sich heraus, dass gegen den bisherigen hinhaltenden Widerstand der Kulturstaatsministerin in naher Zukunft ein Konzeptionspapier zur Beschlussfassung vorgelegt werden wird, in dem ein Denkmal, das den Namen verdient, im Komplex um das Deutsch-Polnische Haus einen prominenten Platz finden wird. Es scheint sich gelohnt zu haben, nicht zu resignieren, sondern sich für die Realisierung eines wichtigen erinnerungspolitischen Zeichens des Verstehens und der Würdigung der Opfer zu engagieren.

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